SEITENWAHL
Die zweitgrößte Flotte des Imperiums fiel in respektvoller Distanz zu Nebelwelt aus dem Hyperraum und blieb, wo sie war. Nach einer Pause, die Raum für Nachdenklichkeit und Hintergedanken bot, näherte sich das Flaggschiff Verwüstung Nebelwelt langsam und sehr vorsichtig. Einst hatte ein mächtiger Esperschild den abtrünnigen Planeten geschützt, ein Schild, der durchaus fähig war, feindliche Sternenschiffe zu zerfetzen. Offiziell gehörte dieser Schild der Vergangenheit an, aber absolut niemandem war danach zumute, das Schicksal auf die Probe zu stellen. Auf der Brücke der Verwüstung studierte Admiral Johann Schwejksam, der sich aus gutem Grund klarer an früher erinnerte als die meisten, die in Grau gehüllte Welt auf dem Hauptmonitor und runzelte nachdenklich die Stirn.
»Immer noch nichts vom Nebelhafen-Tower?«»Nein, Admiral«, antwortete der Funkoffizier
mit fester Stimme. »Kein Wort.«
»Seid Ihr sicher, dass sie dort unsere Botschaften
empfangen?«
»Wir senden auf allen üblichen Kanälen, Admiral, und falls wir
dabei noch höflicher wären, würden wir uns schon dafür
entschuldigen, dass wir überhaupt existieren. Sie hören uns; sie
reagieren nur nicht.« Schwejksam zog lautstark die Nase hoch. »Der
verdammte Planet macht von jeher nur Schwierigkeiten. In Ordnung;
ruft Lewis in seinem Quartier an und bittet ihn höflich, er möge
seinen Arsch auf der Stelle hierher bewegen. Vielleicht beeindruckt
der legendäre Name der Todtsteltzers die Nebelweltler mehr. Gott
weiß, dass es bei mir schon immer so war.«
»Sofort, Admiral.«
Etwas musste man der Besatzung dieses Schiffes zugute halten,
dachte Schwejksam: die Leute waren richtig scharf darauf, alles auf
der Stelle zu erledigen; sie waren geschult und gedrillt und
gebügelt und geschniegelt, als ginge es dabei um ihr Leben.
Schwejksam fand das gut. Es lag lange zurück, dass er zuletzt auf
dem Kommandositz eines Militärschiffs gesessen hatte, und in
vielerlei Hinsicht hatte er das Gefühl, er wäre niemals fort
gewesen. Es fühlte sich an ... wie zu Hause. Als gehörte er
hierhin. Er drehte sich zum früheren Kommandaten, Kapitän Preiß,
um, der sich respektvoll an seiner Seite herumtrieb. Preiß war von
der großen, dürren, asketischen Sorte, von unscharfem Auftreten,
aber scharfem Verstand. Einer aus der alten Schule, der stolz
darauf war, immer seine Befehle auszuführen und im Leben nie einem
eigenständigen Gedanken nachgehangen zu haben. Er hatte dem frisch
ernannten Admiral fast unanständig schnell den Platz freigemacht,
aber andererseits schien heutzutage jeder im Imperium von den
Legendengestalten der Vergangenheit viel zu stark beeindruckt zu
sein. Schwejksam betrachtete Preiß nachdenklich.
»Ich halte es für besser, wenn Ihr für die Flotte sprecht, sobald
sich die arroganten Bastarde auf Nebelwelt endlich mal dazu
herablassen, mit uns zu reden. Ich blicke auf eine gewisse
Geschichte mit diesem Planeten und seinen Bewohnern zurück, und es
ist keine glückliche Geschichte. Und dass ich jetzt eine
Legendengestalt bin, heißt noch lange nicht, dass sie alles
vergessen haben, was ich hier tat, als ich noch Löwensteins Mann
war. Kapitän Preiß, Ihr mögt auf dem Kommandositz Platz nehmen. Ich
halte mich unauffällig im Hintergrund. In all diesen Jahren bin ich
in dieser Disziplin richtig gut geworden.«
Er stand rasch auf und zwang Preiß beinahe dazu, sich dorthin zu
setzen. Der Kapitän seufzte unglücklich und starrte respektvoll das
Bild des Planeten auf dem Monitor an. Nachdem Nebelwelt sich wieder
zum abtrünnigen Planeten erklärt hatte, konnte man sich als Kapitän
eines anfliegenden imperialen Sternenkreuzers praktisch ein
Fadenkreuz auf die Brust malen und rufen: Schießt auf mich, ich bin ein Mistkerl! Aber Preiß
war vor allem Soldat. Er verstand Schwejksams Logik.
»Funkoffizier«, sagte er mit wirklich sehr fester Stimme. »Versucht
es erneut in Nebelhafen.«
»Wir senden laufend, Kapitän. Sie müssen uns zuhören; sie antworten
nur nicht.«
»Sehr gut. Stellt mich durch. Achtung, Nebelhafen, hier spricht
Kapitän Preiß vom Sternenkreuzer Verwüstung, Flaggschiff der Rebellenflotte. Wir
sind persönlich Zeuge der Rückkehr des seligen Owen Todtsteltzer
und anderer Legendengestalten geworden. Unsere Augen wurden für die
Wahrheit geöffnet, und wir haben uns vom falschen Imperator und
Usurpator Finn Durandal losgesagt. Wir kommen als Feunde und suchen
Bundesgenossen für den Kampf gegen einen gemeinsamen Feind. Bitte
antwortet! Oder wir erzählen allen, Ihr hättet Euch zu sehr
gefürchtet, um Euch zu beteiligen.«
Der Planet auf dem Hauptmonitor machte Kopf und Schultern eines
dunklen Mannes mit eckigem Gesicht Platz. Er blickte wütend und
hatte die Lippen zu einer grimmigen flachen Linie zusammengepresst.
Er trug ramponierte, schmierige Felle und hatte sich ein Pentakel
auf die Stirn tätowiert.
»Hier spricht Hafendirektor Ethan Tüll. Ihr dürft auf eine hohe
Umlaufbahn gehen, wiewohl Ihr in keiner Weise willkommen seid. Wir
wissen, wie man mit imperialen Sternenkreuzern umgeht, also benehmt
Euch lieber! Stimmt es, dass Ihr einen Todtsteltzer an Bord
habt?«
»Lewis Todtsteltzer ist bei uns«, antwortete Kapitän Preiß
vorsichtig. »Und seine... Gefährten. Alle sind sie zu Gesetzlosen
erklärt worden.«
»Das wissen wir; wir empfangen hier draußen die gleichen
Nachrichtensendungen wie alle anderen. Kein Owen?«
»Er ist fortgegangen, um sich dem Schrecken
entgegenzustellen.«
»Ja, das macht Sinn.« Tulls finstere Miene wurde noch finsterer.
»Es heißt, Ihr hättet Johann Schwejksam bei Euch.«
»Er ist an Bord, ja.« Preiß achtete auf eine sorgsam neutrale
Miene. »Möchtet Ihr mit ihm sprechen?«
»Niemand hier möchte mit Johann Schwejksam sprechen. Der
Todtsteltzer und seine Gefährten dürfen in Nebelhafen landen, um
mit uns zu reden. Sonst niemand. Unser Planet gehört nicht mehr dem
Imperium an, seit Finn Durandal unseren Paragon Emma Stahl ermordet
hat. Wir sind wieder abtrünnig geworden und suchen unsere
Bundesgenossen sehr sorgfältig aus. Schickt eine Pinasse herab; wir
weisen sie ein. Sollte sonst ein Fahrzeug die Nase in unsere
Richtung wenden, stellen wir schreckliche Dinge mit ihm an. Ihr
möchtet gar nicht wissen wie.«
»Wahrscheinlich nicht«, pflichtete ihm Preiß bei, aber Tülls
Gesicht war schon vom Bildschirm verschwunden. Preiß drehte sich zu
Schwejksam um. »Nun, Admiral, wir haben uns etwa so gut geschlagen,
wie man erwarten konnte. Vielleicht möchtet Ihr wieder auf Eurem
Kommandositz Platz nehmen, während ich die Hose wechseln
gehe.«
Und so geschah es, dass Lewis Todtsteltzer, Jesamine Blume, Brett
Ohnesorg und Rose Konstantin mit einer unbewaffneten Pinasse nach
Nebelhafen hinabflogen und sich auf ganzer Strecke sehr verwundbar
fühlten. Brett setzte sich doch tatsächlich auf Roses Schoß, wenn
das Wetter den Flug etwas holprig gestaltete. Der Landeanflug
verlief aber ansonsten ereignislos. Der Nebelhafen-Tower leitete
sie mit geübter Kunstfertigkeit auf den Landeplatz. Alle an Bord
der Pinasse warteten geduldig, bis sie die Erlaubnis erhielten
auszusteigen.
Die Kälte brach mit voller Kraft über sie herein, kaum dass sie die
Pinasse verließen; die eiskalte Luft betäubte ihnen die Gesichter
und brannte ihnen in den Lungen. Sie zogen die Mäntel fest um sich
und drängten sich zusammen, um Wärme und Trost zu finden.
Nebelhafen lag in Nebel gehüllt wie der Rest des Planeten auch; es
war eine langsam wirbelnde dicke graue Decke, die Lewis und seine
Gefährten von allem in ihrer Umgebung abschottete. Die übrigen
Schiffe auf dem Landefeld zeichneten sich nur als große
ungeschlachte Schatten ab, und der hohe Tower machte sich nur als
vager Lichtschein bemerkbar. Es war wie am Grund eines Meeres,
kalt, still und sehr einsam. Auf Nebelwelt herrschte stets Winter.
Schnee, Eis und Nebel breiteten sich unter einer blassen roten
Sonne aus. Nirgendwo erblickten Lewis und seine Gefährten Spuren
von Leben. Brett blies sich in die Hände und rieb sie heftig
aneinander.
»Ich hasse die Kälte! Sie ist unnatürlich in unserem zivilisierten
Zeitalter der Wettersteuerung. Ich spüre richtig, wie mir die Eier
einschrumpfen.«
»Alles in allem zu viele Informationen, Brett«, sagte
Jesamine.
Brett fuhr trotzdem fort. Er war niemand, der sich jemals bremsen
ließ, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab, ordentlich zu jammern.
»Ich dachte, Schwejksam würde mit uns herabfliegen. Warum ist er
nicht hier? Weiß er etwas, was wir nicht wissen?«
»Er war vor über zweihundert Jahren schon mal hier«, sagte Lewis
und blickte sich in den kreiselnden Nebelschwaden geistesabwesend
um. »Er gehörte zur Invasionsstreitmacht der Eisernen Hexe.
Nebelweltler haben ein langes Gedächtnis, und sie neigen dazu, ihre
Ressentiments zu pflegen. Kennt Ihr nicht die eigene
Geschichte?«
»Ich bin nur gelegentlich zur Schule gegangen«, räumte Brett
ein.
»Na, da bin ich aber überrascht!«, mischte sich Jesamine ein.
»Passt lieber auf, Schleimbeutel: damals, als Schwejksam nur
Kapitän in Löwensteins Flotte war, ist das Militär in Nebelhafen
einmarschiert, hat Hunderttausende Menschen massakriert und einen
großen Teil der Stadt in Schutt und Asche gelegt. Für uns ist
Johann Schwejksam eine Legendengestalt. Für die Nebelweltler ist er
ein Kriegsverbrecher, der davongekommen ist. Warum möchtet Ihr
Schwejksam überhaupt hier unten haben? Ihr wisst sehr gut, dass er
Euren Anblick nicht erträgt.«
»Es kann nie schaden, einen legendären Kämpfer zur Seite zu haben«,
behauptete Brett düster. »Besonders, wenn Verhandlungen
anstehen.«
»Zweihundert Jahre, seit Schwejksam zuletzt hier war«, sagte Lewis
nachdenklich. »Man vergisst allzu leicht, wie alt er wirklich ist.
Was er alles gesehen, was er alles getan hat... Für ihn sind unsere
Legenden Erinnerungen. Er ist wahrscheinlich der einzige lebende
Mensch, der tatsächlich mit der Eisernen Hexe persönlich gesprochen
hat. Er war dabei, und das während der
ganzen Epoche, deren Erinnerung Robert und Konstanze später
unterdrücken ließen. Ich wette, er könnte einige unglaubliche
Geschichten erzählen, falls wir ihn nur dazu brächten, sich ein
wenig zu öffnen.«
»Ich denke nicht, dass er sich erinnern möchte«, wandte Jesamine
ein. »Ich glaube nicht, dass ihm gefällt, wer er früher war. Dass
ihm die Dinge gefallen, die sein altes Selbst tun
musste.«
»Hat etwas für sich«, räumte Lewis ein. »Die Legenden stellen ihn
als ehrenhaften Mann dar, aber nicht mal die Legenden können
verbergen, dass er... auch Zweifelhaftes getan hat.«
Brett schniefte lautstark. »Dann sollte er sich hier auf Nebelhafen
wie zu Hause fühlen. Sie haben ihre gesamte Kultur darauf
aufgebaut, dass sie Diebe, Schläger und Gesetzlose sind.«
»Sie verstehen auch eine Menge vom Töten«, warf Rose ein.
»Du darfst hier nichts anfangen, Rose!«, erklärte Brett streng.
»Lewis, sagt ihr, dass sie hier nichts anfangen darf!«
»Das riskiere ich nicht«, lehnte Lewis ab.
»Rose ist Euer Problem, Brett«, sagte Jesamine. »Ihr seid es, der
mit ihr schläft, was für meine Begriffe das Tapferste ist, was ihr
jemals getan habt.«
»Ihr habt ja keine Ahnung«, sagte Brett.
Sie standen noch einige Zeit in der Kälte und stampften mit den
Füßen auf den Landeplatz, damit der Kreislauf in Gang blieb. Sie
alle trugen schwere Pelze, die man ihnen auf der Verwüstung gegeben hatte, aber die Kälte schnitt
wie ein bitteres Messer hindurch. Brett hatte außerdem
Echsenhautstiefel an und Rose einen schönen neuen Umhang aus
Echsenhaut. Keiner erwähnte ihren früheren Gefährten und
ausgewiesenen Verräter, das Echsenwesen namens Samstag.
»Wozu die Verzögerung?«, fragte Jesamine ärgerlich. »Sie wussten
doch, dass wir kommen. Verdammt, sie haben unser Schiff
heruntergelotst!«
»Sie überprüfen uns wohl aus sicherer Entfernung mit Scannern und
Espern«, überlegte Lewis. »Stellen sicher, dass wir die sind, die
wir zu sein vorgeben, und dass wir keine versteckten Waffen oder
verbotenen Implantate tragen. In Nebelhafen hat man guten Grund,
sich vor trojanischen Pferden zu schützen; vor langer Zeit stand
eine gehirngewaschene Esperin namens Typhus-Marie kurz davor, die
ganze Stadt auszulöschen.«
»Ich wette, Ihr wart im Geschichtsunterricht ein richtiger
Streber«, brummte Brett. »Seht mal, sie lassen uns warten, weil es
in ihrer Macht steht. Um uns aufs Butterbrot zu streichen, dass sie
hier das Sagen haben und wir diejenigen sind, die um eine Audienz
bitten. Es geht nur darum, uns den gebührenden Platz
zuzuweisen.«
»Ich habe mir noch nie einen Platz zuweisen lassen!«, sagte
Jesamine sofort. »Der einzige Platz, den ich je akzeptiert habe,
war einer, den ich mir selbst geschaffen hatte.«
»Sie müssen vergessen haben, dass Ihr ein Star seid«, sagte Brett
schlau. »Warum schmettert Ihr ihnen nicht eine Arie um die Ohren,
um sie daran zu erinnern?«
»Ausnahmsweise sind diese verkommene Person und ich derselben
Meinung«, sagte Jesamine. »Ich bin vielleicht eine Rebellin, aber
trotzdem auch noch eine Diva. Wie können sie es wagen, mich so zu
behandeln? Und das, nachdem ich vor gerade neun Jahren ein
Wohltätigkeitskonzert für sie gegeben habe, in dieser Toilette, die
man hier ein Theater nennt. Falls sie nicht bald ihre elenden
Gesichter zeigen, singe ich ihnen eine Arie vor, unter der jedes
Fenster im Tower zersplittert und ihre Zahnfüllungen noch eine
Woche lang vibrieren!«
»Jemand kommt«, sagte Rose.
Alle richteten sich auf und folgten Roses Blick. Die Nebelschwaden
drehten sich langsam und verrieten überhaupt nichts von jemandem,
der näher kam, aber alle hier vertrauten Roses
Instinkten.
»Ich spüre etwas«, sagte Lewis plötzlich. »Spürt ihr nicht auch ...
etwas?«
»Ja«, antwortete Jesamine langsam. »Wie Spinnweben, die durch
meinen Verstand treiben. Was ist das?«
»Espersonden«, erklärte Brett. »Telepathen versuchen, Einblick in
Eure Gedanken zu nehmen. Nicht, dass sie gegen unsere gestärkten
Hirne irgendeine Chance hätten! Ich bezweifle, dass außer der
Überseele überhaupt noch jemand die Abwehr knacken könnte, die wir
heute haben. Trotzdem dürften wir die Sondierung nicht spüren. Das
ist ungewöhnlich.«
»Sind wir inzwischen auch«, gab Lewis zu bedenken. »Zweifellos
entdecken wir im Lauf der Zeit noch mehr ...
Fähigkeiten.«
»Komischerweise tröstet mich dieser Gedanke kein bisschen«,
bemerkte Brett.
»Haltet die Klappe, Brett«, verlangte Jesamine.
Dunkle Gestalten zeichneten sich schließlich in den dahintreibenden
Nebelschwaden ab und kristallisierten sich aus dem endlosen Grau
heraus. Roses Hand lag lässig auf der Pistole an ihrer Hüfte. Ein
Dutzend Männer und Frauen blieben vor ihnen stehen und waren so in
dicke Pelzumhänge eingemummelt, dass man sie nicht einzeln
identifizieren konnte. Das bisschen, was man von ihren grimmigen,
unbarmherzigen Gesichtern erkennen konnte, wirkte nicht im
Mindesten Vertrauen erweckend. Alle waren schwer und auffällig
bewaffnet.
»Unsere Esper konnten nichts mit Euren Gedanken anfangen«, erklärte
einer von ihnen abrupt. »Sie sahen sich nicht mal in der Lage, Euch
als Menschen zu identifizieren. Sie sagten, es wäre, als starrte
man in die Sonne.«
»Wir haben alle das Labyrinth des Wahnsinns durchschritten«,
stellte Lewis fest. Er bemühte sich sehr, es ruhig und ohne
prahlerischen Unterton auszusprechen. »Wir durchlaufen eine
fortwährende Verwandlung. Fragt nächstes Mal einfach. So, mit wem
habe ich nun die Ehre?«
»Ich bin Manfred Kramer. Ratsherr der Stadt und Vorsteher des
Sicherheitsdienstes von Nebelhafen. Eure Grammatik weist Euch als
den Todtsteltzer aus. Ich erkenne auch die Diva und die Wilde Rose,
aber wer ist der kleine Arsch dort?«
»Heh!«, beschwerte sich Brett. »Ich gehöre zu Ohnesorgs
Bastarden!«
»Das gilt für praktisch jeden in Nebelhafen«, winkte Kramer ab.
»Hätte der Berufsrebell so viele Kinder gezeugt, wie behauptet
wird, hätte er nie mehr die Zeit gefunden, von hier fortzugehen.
Benehmt Euch hier, Ohnesorg!«
Und allein dafür, dachte sich Brett,
werde ich dir die Unterhose klauen. Und zwar
solange du sie noch anhast!
Lewis musterte Manfred Kramer nachdenklich. Der Sicherheitschef war
groß und muskulös, hatte dunkle, misstrauisch blickende Augen und
presste die Lippen zu einer Linie der Verdrossenheit zusammen. Auf
eine Wange hatte er sich einen Totenkopf tätowiert, und er trug
dickes schwarzes Augen-Make-up.
»Naja«, sagte Lewis. »Da sind wir.«
»Falls es nach mir ginge«, raunzte Kramer, »dann wärt Ihr es nicht!
Nichts Gutes wird sich daraus ergeben. Es geht nie gut, wenn sich
Nebelwelt auf das Imperium einlässt. Aber was weiß ich schon? Ich
bin nur Sicherheitschef ... Folgt mir! Der restliche Stadtrat
möchte mit Euch reden.«
»Langsam, langsam, Manfred!«, mahnte eine Frau neben ihm. Sie trat
vor und musterte Lewis scharf aus ihren kalten grauen Augen. »Ich
bin Ratsherrin Jannie Goldmann. Seid Ihr wirklich ein Todtsteltzer?
Wir haben gehört, sie wären alle tot. Ermordet.«
»Ich bin Lewis. Einst Paragon von Virimonde und jetzt Letzter des
Clans Todtsteltzer.«
»Ja, ich habe Euch gesehen, als die Krönung des Königs übertragen
wurde und er Euch zum Champion ernannte. Ich dachte, Ihr wärt in
Wirklichkeit größer. Und Gott, seid Ihr ein hässlicher Mistkerl,
was?«
»Die Kunst der Diplomatie ist auf Nebelwelt noch immer hochgradig
lebendig«, brummte Brett.
»Ich denke, du bist bei ihr gelandet, Lewis«, sagte
Jesamine.
»Schluss damit!«, mischte sich ein weiterer Mann ein und schob sich
an Goldmann vorbei, um Jesamine direkt ins Gesicht zu starren. »Ihr
seid es! Sie ist es! Es ist tatsächlich Jesamine Blume!« Er schlug
die Augen nieder, wirkte plötzlich verlegen. »Frau Blume, ich bin
Euer größter Fan! Ich habe alle Eure Aufnahmen. Und Eure Videos und
einen ganzen Haufen Poster und ... Ich ... ich habe dieses Video
mitgebracht; es ist mein Lieblingsstück. Wärt Ihr so freundlich und
signiert es mir?«
»Natürlich, Darling«, sagte Jesamine liebenswürdig, während der Fan
mit beiden Händen unter seinen Pelzen herumsuchte. »Ich freue mich
immer, einen Fan kennen zu lernen. Habt Ihr einen Stift?«
»Was? Oh ja! Ja, natürlich!«
Noch weitere Männer und Frauen brachten allerlei Zeug zum
Vorschein, damit sie es signierte, nur um es wieder wegzustecken,
als Kramer sich finster unter ihnen umblickte.
»Die Belange des Rats haben Vorrang! Was ist nur los mit
euch?«
»Später, meine Freunde«, vertröstete Jesamine ihre Bewunderer. Sie
starrte Kramer kalt an. »Und Ihr bekommt nichts!«
»Stimmt es, dass Owen zurückgekehrt ist?«, wollte Ratsherrin
Goldmann wissen. »Habt Ihr ihn wirklich gesehen?«
»Ja«, antwortete Lewis. »Er ist wieder da. Und er verkörpert alles,
was ihm die Legenden zuschreiben, und noch mehr dazu. Er ist
losgezogen, um sich dem Schrecken entgegenstellen. Mehr wissen wir
im Grunde nicht. Zweifellos taucht er wieder bei uns auf, wenn
seine Arbeit getan ist.«
Das reichte, um sie zum Schweigen zu bringen, sogar Kramer. Endlich
forderte dieser alle mit einem Wink auf, ihm zu folgen, und
marschierte in den Nebel davon. Er schlug ein flottes Tempo an, und
die Übrigen mussten sich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten.
Lewis und seine Begleiter blieben dicht zusammen. Sie wollten sich
wirklich nicht im Nebel verirren. Brett schniefte
lautstark.
»Warum kauft Ihr nicht ein paar Wettersatelliten und klärt diesen
verdammten Nebel?«, fragte er laut.
»Weil uns unser Planet so gefällt, wie er ist«, knurrte Kramer,
ohne zurückzublicken. »Der lange Winter macht uns stark. Die Kälte
kräftigt unsere Knochen mit Eisen. Wir wussten schon immer, dass
das goldene Zeitalter nicht lange bestehen würde. Wir waren schon
immer bereit - um den Schlamassel aufzuräumen, sobald das Imperium
erst mal zerfallen sein würde.«
Lewis und die anderen gafften wie die Touristen, während Kramer sie
tief in die weitläufige Stadt Nebelhafen führte. Wie die meisten
Menschen kannten sie Nebelhafen nur aus den alten Geschichten aus
der Zeit der Großen Rebellion. So viel war hier passiert; so viele
bedeutende Menschen waren gekommen und gegangen, und doch wusste
kaum jemand mehr als diese dürftigen Tatsachen. Nebelwelt behielt
das, was es über sich selbst wusste, für sich und lud keine
Besucher ein. Der Stadtrat hatte sogar für eine Zeit lang
tatsächlich üppige Kopfgelder auf jene hartnäkkigen Besucher
ausgesetzt, die darauf beharrten, sich hier einzuschleichen.
Nebelwelt hätte mit seiner Legende und der Vermarktung seines Ruhms
reich werden können, hatte sich aber dagegen entschieden.
Wäre Owen dabei gewesen, wäre ihm hier vieles vertraut erschienen.
Die Stadt hatte sich in zweihundert Jahren nicht sehr verändert.
Sie bestand noch immer aus gedrungenen, altmodischen Häusern, die
vor allem aus Steinen und Holz bestanden. Der eine oder andere
moderne Zug war allerdings nicht zu übersehen — seien es die
kräftigen Straßenlampen, die den Dunstschleier des Nebels
zurückdrängten, oder die flachen Antigravfahrzeuge, die den
schmalen, gepflasterten Straßen folgten. Auf dem Herbstfluss, der
sich durch das Stadtzentrum wand, tuckerten jedoch nach wie vor
dampfgetriebene Barken dahin, und die Wachleute gingen zu zweit
Streife, weil es so sicherer war. Zwar galten auf Nebelwelt
Gesetze, aber genau wie Bretts Bildung waren sie lückenhaft. Die
Leute, die in ihren dicken Pelzen und Mänteln auf den Straßen
herumeilten, scherten sich nicht um Kramer und seine
Begleiter.
»Heh, mir ist gerade etwas aufgefallen?«, sagte Brett. »Warum bist
du dann hineingetreten?«, fragte Rose. Alle mussten nun anhalten
und warten, während Brett sich den Schuh ausgesprochen gründlich
sauber scharrte. Kramer funkelte ihn ungeduldig an, aber diesmal
hatte Brett den funkelnden Blick besser drauf. Als er überzeugt
war, gründliche Arbeit geleistet zu haben, deutete er mit einer
Geste in die Runde.
»Ich wollte sagen: Wo sind Eure Standbilder? Die Hälfte aller
historischen Helden ist während der Großen Rebellion regelmäßig
hier durchgekommen, und ich habe bislang kein einziges Standbild
von ihnen gesehen. Nicht mal von Owen, der nach allem, was man so
hört, diese Stadt ein halbes Dutzend Mal ganz allein gerettet
hat.«
»Wir glauben nicht an sie«, entgegnete Kramer kurz. »Standbilder
oder Helden?«, erkundigte sich Lewis. »Wir brauchen keine
Standbilder, um uns daran zu erinnern, was Owen und Hazel D'Ark
hier geleistet haben«, erklärte Ratsherrin Goldmann. »Wir denken
daran. Das werden wir immer tun. Wir selbst sind ihr Erbe, nicht
ein idealisierter Steinklotz. Wir haben allerdings ein paar
Krankenhäuser, die St. Beatrix gewidmet sind, aber das ist etwas
anderes.«
Niemand wusste darauf etwas zu sagen, also wurde der restliche Weg
weitgehend schweigsam zurückgelegt. Er endete in einer schlichten
Kneipe tief im Herzen der Stadt. Diese Gastwirtschaft schien eine
recht erfreuliche Angelegenheit zu sein, nach der bitteren Kälte
draußen herrlich warm und gemütlich. Lewis und seine Begleiter
nahmen schnurstracks Kurs auf das prasselnde offene Feuer im
riesigen gemauerten Kamin, während Kramer mit dem Wirt redete,
einem kleinen Fettkloß von Mann in Kleidern, deren Farben
miteinander in fröhlichem Streit lagen. Lewis und Jesamine
wechselten sich vor dem Kamin ab, um die tauben Hände durch
kräftiges Reiben wieder zum Leben zu erwecken, wobei sie jeweils
das Gesicht vom Kribbeln und Stechen verzogen. Brett stand mit dem
Rücken zum Feuer und streckte diesem das Hinterteil entgegen, um in
den vollen Genuss der Wärme zu kommen. Lediglich Rose schien sowohl
von der Kälte als auch der neuen Wärme völlig unbeeindruckt. Die
übrigen Kneipengäste ignorierten die Neuankömmlinge und machten
sich nicht mal die Mühe, ihre Stimmen zu senken.
Der Wirt führte die neuen Gäste nun in ein Nebenzimmer und
hantierte fröhlich in der Gegend herum, bis es sich jeder bequem
gemacht hatte und mit einem Krug versorgt war, der etwas Warmes und
Beruhigendes und trügerisch Alkoholisches enthielt. Er versprach
auch, bald und in reichlichem Maße warme Speisen aufzutragen. Rose
wich er weiträumig aus, aber das taten sowieso alle. Lewis und
seine Gefährten saßen mit Kramer und Goldmann an der Cheftafel,
während die übrigen Nebelweltler ein Stück entfernt Platz
nahmen.
»Was ist das für ein Tier auf dem Schild über der Tür, durch die
wir eingetreten sind?«, fragte Brett den Wirt.
»Das, Sir, ist ein Koboldshund. Die Gaststätte ist nach dieser
Kreatur benannt, und das war vielleicht ein grauenhaftes Tier, Sir!
Seit über hundert Jahren trägt die Kneipe den Namen Koboldshund und
ist berühmt für gute Weine und Spirituosen. Früher, zu Zeiten
meines Großvaters, nannte man sie Schwarzdorn, wurde aber
umbenannt, um den Tod des letzten Koboldshundes zu feiern.
Scheußliche Biester waren das, Sir, haben nicht weniger aus Spaß
getötet als aus Hunger, oder so hat man es mir zumindest erzählt.
Jedenfalls wurden sie gejagt, bis sie ausgerottet waren, und schön,
dass wir sie los sind. Es heißt, irgendein verdammter Idiot hätte
ein Zuchtpaar für den Zoo verschonen wollen, aber mein Großvater
hat ihn zur Sicherheit erschossen.«
Er sah, dass Kramer ihn ungeduldig anfunkelte, und erinnerte sich
daran, dass er dringend anderswo gebraucht wurde. Er hastete
geschäftig von dannen, und die eigentliche Konferenz nahm ihren
Anfang. Der Stadtrat von Nebelhafen und damit automatisch ganz
Nebelwelt setzte sich, wie nun klar wurde, aus Kramer und Goldmann
zusammen sowie einem weiteren Mann und einer weiteren Frau, die
leise auf den für sie frei gebliebenen Stühlen Platz nahmen. Unter
ihren formlosen Pelzen erwies sich Goldmann als wohlgeformte reife
Frau mit weichem Mund und wissenden Augen. Kramer wirkte mehr denn
je wie ein Schläger. Dann war da eine alte Frau namens Gina
Kasswohl, und Lewis und seine Gefährten hatten noch nie eine Frau
gesehen, die so alt aussah. Menschen des Imperiums wirkten heute
bis zum Zeitpunkt ihres Todes nicht mehr alt. Aber hier war man auf
Nebelwelt, dessen Bewohner nichts von solchem Firlefanz hielten.
Lewis musste sich zusammenreißen, um Gina Kasswohl nicht ins
eingefallene, runzlige Gesicht zu starren. Brett versuchte
natürlich nicht mal, diskret zu sein, bis Jesamine ihm unter dem
Tisch einen Tritt an den Fußknöchel versetzte. Der letzte Ratsherr
und Vorsitzende war Gil Akotai. Lewis hatte ihn schon vom Äußeren
her als den Anführer erkannt: Akotai war ein gedrungener Brocken
mit flachem Gesicht und schläfrigem Blick, fast so breit wie groß,
aber ungeachtet des Eindrucks ruhiger Entspanntheit konnte er Lewis
nicht einen Augenblick lang täuschen. Lewis erkannte einen
gefährlichen Mann sofort, wenn er ihn sah.
»Für einen Todtsteltzer macht Ihr nicht viel her«, meinte Kasswohl
mit ihrer scharfen Alte-FrauenStimme. »Ich habe zu meiner Zeit
schon Eindrucksvolleres die Toilette runtergespült. Habt Ihr im
Labyrinth des Wahnsinns irgendwelche Kräfte erlangt?«
»Ich bin noch dabei, es herauszufinden«, antwortete Lewis und war
entschlossen, ungeachtet jeder Provokation höflich zu bleiben.
»Aber ich bin heutzutage eindeutig mehr als früher.«
»Das dürfte auch nicht schwierig sein«, sagte Kasswohl.
»Ich wollte von Anfang an niemanden von Euch hier empfangen«, warf
Kramer ein. »Wer seid Ihr denn im Grunde? Ein in Schande gefallener
Krieger, der mit seinem legendären Namen hausieren geht. Eine
Sängerin, die ihre besten Jahre hinter sich hat, ein weiterer
verdammter Bastard Ohnesorgs - als hätten wir davon nicht schon
mehr als genug - und die Wilde Rose der Arena, von der ich immer
noch denke, wir hätten sie sofort, als sie auftauchte, aus sicherer
Distanz erschießen sollen. Oh ja, wir wissen alles von ihr! Wir
empfangen hier draußen sämtliche Unterhaltungssender. Eine
komplette verdammte Psychopathin mit einem bösartigen Schlag ins
Extreme. Soll keine Beleidigung sein.«
»Vertraut mir«, mischte sich Brett ein. »Falls sie beleidigt wäre,
wüsstet Ihr das inzwischen. Längst würden Köpfe über den Fußboden
rollen und Eingeweide von den Lampen baumeln.«
»Seht Ihr?«, wandte sich Kramer an Akotai.
»Seid still, Manfred«, sagte Akotai sanft, und Kramer hielt sofort
die Klappe. Alle Welt blickte Akotai an, aber wie es schien, war
das vorläufig alles, was er zu sagen hatte.
»Entschuldigt mich«, meldete sich Jesamine in diesem gefährlich
ruhigen und gleichmäßigen Tonfall zu Wort, von dem Lewis inzwischen
wusste, dass er von unmittelbar drohendem Ungemach kündete. »Was
genau meintet Ihr mit: eine Sängerin, die ihre besten Jahre hinter
sich hat? Ich bin eine Diva!«
»Das hier soll ein Treffen von Rebellen und Kämpfern sein, nicht
von zweitklassigen Showstars«, sagte Kramer, und Lewis zuckte
zusammen.
»Ich war niemals zweitklassig!«, raunzte Jesamine. »Und ich bin
mehr Kämpfer, als Ihr je sein werdet!«
»Haltet die Klappe, Frau, oder ich lasse Euch
hinauswerfen!«
Ach du liebe Güte!, dachte sich
Lewis.
Kramer und Jesamine waren inzwischen beide aufgesprungen und
funkelten sich gegenseitig an. Lewis blickte zu Akotai hinüber, um
zu sehen, ob dieser einzugreifen gedachte, und als deutlich wurde,
dass damit nicht zu rechnen war, seufzte Lewis schwer und schlug
mit der Hand heftig auf den Tisch. Ein Sprung lief von einem Ende
der schweren Tischplatte aus Eisenholz zum anderen, und alle
blickten scharf zu Lewis auf. Eisenholz war so widerstandsfähig,
dass man es gewöhnlich nur mit einem Laser zurechtschneiden konnte.
Kramer setzte sich, und einen Augenblick später folgte Jesamine
diesem Beispiel. Die vier Ratsherren schienen sich tatsächlich ein
wenig zu entspannen. Die alte Kasswohl lächelte Lewis gar
an.
»Na, das ist mal ein Todtsteltzer!«, sagte sie und ließ die wenigen
Schneidezähne blitzen, die sie noch hatte.
»Ja«, sagte Akotai. »Ihr versteht sicher, Lewis, dass wir
sichergehen mussten. Jetzt zum Geschäft.« Er beugte sich vor und
bannte mühelos jede Aufmerksamkeit. »In kurzer Zeit ist viel
geschehen. Unser Planet hat sich von Finn Durandal und seinem
Imperium losgesagt. Hier ist kein Platz für den Irrsinn der Reinen
Menschheit und der Militanten Kirche. Der Tropfen ins übervolle
Fass war natürlich die Ermordung unseres Paragons Emma Stahl. Jeder
Mann und jede Frau auf Nebelwelt hat geschworen, diese üble und
ungerechte Mordtat zu rächen. Der Durandal hat Emma Stahl als
Verräterin gebrandmarkt, aber niemand hier glaubt das. Wir alle
haben sie gekannt. Sie war die Beste von uns.«
»Sie war keine Verräterin«, bestätigte Lewis. »Finn hat sich nicht
mal die Mühe gemacht, einen Schauprozess zu veranstalten, und dabei
liebt er seine Prozesse so sehr! Sie muss ihn im Visier gehabt
haben, muss etwas Wichtigem auf der Spur gewesen sein, also ließ er
sie umbringen. Er hat gewusst, dass er sie nie durch Bestechung
oder Einschüchterung zum Schweigen bringen konnte.«
»Wir hätten es ihm nie geglaubt, auch nicht, falls es zu einem
Schauprozess gekommen wäre«, sagte Kramer. »Wir alle kannten
Emma.«
»Ich kannte sie auch«, fuhr Lewis fort. »Sie war eine Zeit lang
meine Partnerin. Ein guter Paragon, stark und treu und ehrenhaft.
Wir haben gut zusammengearbeitet. Ich vermisse sie.«
»Es ist schön zu wissen, dass sie war, was sie immer sein wollte«,
sagte Akotai, und alle Ratsmitglieder nickten. Akotai blickte Lewis
an. »Ich stehe dem Rat vor, und der Rat steht Nebelwelt vor. Warum
sollten wir Euch als Anführer der Rebellion akzeptieren, Lewis
Todtsteltzer? Wie rechtfertigt Ihr einen solch arroganten Anspruch?
Mit Eurem legendären Namen?«
Jesamine wollte schon etwas Hitziges und Hartes zur Antwort geben,
aber Lewis unterband es mit einer Handbewegung. Er erwiderte
gelassen Akotais Blick.
»Ich führe, weil ich die meiste Erfahrung im Kampf gegen Finn und
seine Kreaturen habe. Und den größten Erfolg.«
»Und dann liegt noch das Thema Johann Schwejksam auf dem Tisch«,
sagte Akotai, als hätte Lewis gar nichts gesagt. »Wir wissen, dass
er an Bord eines Eurer Schiffe ist. Wir haben nie vergessen oder
verziehen, was er hier getan hat, und werden es auch nie. Die
Männer und Frauen, die tot auf den Straßen lagen, die lebendig in
den Häusern verbrannten Kinder, die Berge aus Schädeln, mit denen
seine Raumsoldaten ihre Siege markierten. Habe ich Euch schockiert,
Todtsteltzer? Seine Legende wurde von diesen Gräueltaten gereinigt,
aber wir haben sie nicht vergessen. Er hat der Eisernen Hexe
gedient, und er hat ihr viele Jahre lang gut gedient.«
»Das war vor über zweihundert Jahren«, sagte Lewis.
»Nein«, erwiderte Kasswohl. »Es war gestern.«
»Ein Mann kann sich in zweihundert Jahren gründlich ändern«, sagte
Lewis vorsichtig. »Und wir sprechen über den Mann, der die Flotte
gegen die Streitkräfte von Shub und der Neugeschaffenen geführt
hat.«
»Wird dadurch ein toter Nebelweltler wieder lebendig?«, wollte
Akotai wissen.
»Jeder von uns hat eine Vergangenheit«, mischte sich Brett
unerwartet ein. »Manche von uns finden die Kraft, sich darüber
hinauszuentwickeln. Und lasst gefälligst Lewis in Frieden! Er hat
sich des Namens Todtsteltzer als würdig erwiesen.«
»Wie?«, wollte Kramer wissen. »Indem er seinem besten Freund, dem
König, diese Schlampe geraubt hat?«
Lewis war sofort auf den Beinen. Er packte Kramer am Hemd und
zerrte ihn vom Stuhl hoch und über den Tisch, bis sich ihre
Gesichter direkt gegenüberlagen. Kramer wehrte sich heftig, konnte
sich aber nicht befreien. Lewis lächelte, und der Ratsherr
erstarrte auf einmal, gebannt von der unverhohlenen Drohung in
Lewis' kaltem Blick.
»Ihr werdet so nicht von Jesamine sprechen«, sagte Lewis. »Weder
jetzt noch jemals wieder. Also setzt Euch und haltet die Klappe,
oder ich stelle mit Euch das Gleiche an wie eben mit dem
Tisch.«
Er stieß Kramer auf den Stuhl zurück und setzte sich selbst wieder.
Jesamine tätschelte ihm sanft den Arm.
»Ich habe es Euch ja gesagt«, bemerkte Kasswohl. »Er ist ein
Todtsteltzer.«
»Aber reicht das, um uns seiner Führung unterzuordnen?«, fragte Gil
Akotai, und erneut drehten sich alle zu ihm um. »Ihr müsst eins
verstehen, Lewis: Ich habe mir meine Stellung hier verdient. Ein
Dutzend Jahre als Ratsvorsitzender und erprobter Krieger. Ich habe
Emma Stahl ausgebildet, als sie beschloss, unser erster Paragon zu
werden. Falls Ihr uns führen möchtet, müsst Ihr Euren Wert für uns
beweisen.«
Jesamine wurde von neuem zornig, und sogar Brett wirkte doch
tatsächlich entrüstet, aber Lewis nickte nur gelassen. »Ich war
Paragon auf Logres und imperialer Champion für König Douglas. Ich
habe die Streitkräfte des Usurpators Finn abgewehrt und mich den
Monstern auf Shandrakor gestellt. Ich erwähne diese Dinge nur
beiläufig.«
»Was Ihr woanders getan oder nicht getan habt, ist hier von
geringer Bedeutung«, entgegnete Akotai nicht minder gelassen. »Hier
sind wir auf Nebelwelt, und Ihr müsst Euch uns gegenüber
beweisen.«
»Wir haben Soldaten und Monster erschlagen«, mischte sich Rose
unvermittelt in ihrer bedächtigen, kalten Stimme ein. »Wir haben
gegen Esper, Elfen und Paragone gekämpft. Warum sollten wir uns
dazu herablassen, gegen Euresgleichen zu streiten?«
»Verdammt richtig!«, sprang ihr Jesamine bei. »Männer! Als Nächstes
fuchtelt Ihr noch mit Euren Schwänzen voreinander herum.«
»Ich möchte nur zu bedenken geben, dass ich in keiner Weise an
diesen Dingen beteiligt bin«, erklärte Brett.
Lewis blickte Akotai an.»Müssen wir das wirklich machen? Finn würde
sich kaputt lachen, falls er sähe, wie seine Feinde sich
gegenseitig an die Gurgel gehen.«
»Wir sind hier auf Nebelwelt«, beharrte Akotai. »Wir haben unsere
eigenen Gebräuche. Jetzt schafft hier etwas Platz!«
Auf dieses Kommando hin standen die übrigen Nebelweltler
geschlossen auf und hoben den Eisenholztisch aus dem Weg, sodass in
der Mitte des Zimmers eine freie Fläche entstand. Die Leute, die an
dem Tisch gesessen hatten, mussten auseinander laufen. Brett wich
in die nächste Ecke zurück und hielt Rose wie einen Schild vor
sich. Jesamine traf Anstalten, ihr Schwert zu ziehen, aber Lewis
legte ihr die Hand auf den Arm und drängte sie sanft, aber bestimmt
zur Seite. Die Nebelweltler bildeten einen Kreis um Lewis und
Akotai. Der Ratsherr wirkte gar nicht mehr ruhig oder schläfrig. Er
zog das Schwert, ein Krummschwert mit langer gebogener Klinge.
Lewis zog die eigene Waffe, und auf einmal kämpften sie.
Stahl krachte im matt beleuchteten Zimmer auf Stahl, und Funken
leuchteten hell in den Schatten. Akotai und der Todtsteltzer
umkreisten einander ohne Eile. Ihre Schritte krachten schwer auf
den kahlen Boden, während sie zustießen und parierten. Akotai war
ein schneller und geschickter Schwertkämpfer; die krumme Klinge
zuckte so schnell, dass die meisten Zuschauer dem nicht folgen
konnten. Außerdem erwies er sich als stark, tapfer und raffiniert -
aber zu keinem Zeitpunkt war er ein Gegner für den Todtsteltzer.
Lewis tanzte beinahe lässig um seinen Gegner herum, tauchte mal
hier und mal dort auf, irgendwie immer an der richtigen Stelle, um
Akotais immer heftigere Angriffe abzuwehren. Lewis' Klinge zuckte
vor, berührte Akotai mal hier und mal dort und hinterließ dabei
blutige Schrammen. Akotai legte seine ganze Kraft und Wildheit in
jeden einzelnen Schlag, versuchte eine Öffnung in Lewis' Abwehr zu
erzwingen, erreichte aber damit gar nichts. Der Todtsteltzer
brachte Akotai schließlich zum Stehen, wich dann gelassen zurück
und senkte das Schwert, während der Ratsherr atemlos und besiegt
vor ihm stand.
Manfred Kramer zog das Schwert und griff an. Jesamine öffnete den
Mund und sang einen einzelnen durchdringenden Ton, der Kramer
sofort auf die Knie zwang. Er griff sich an den Kopf und schrie vor
Schmerzen auf. Alle anderen im Raum zuckten zusammen,
einschließlich Lewis. Jesamine blickte sich finster um.
»Benehmt Euch, Darlings! Oder ich singe eine Arie, bei der Euch die
Gehirne zu den Ohren hinauslaufen.«
»Eine Sirene«, sagte Kasswohl respektvoll. »Es ist lange her, seit
zuletzt eine Sirene Nebelwelt besuchte. Ich werde es Topas sagen
müssen.«
Lewis nickte Akotai lässig zu. »Ihr hättet es wirklich besser
wissen müssen, Ratsherr. Labyrinth hin, Labyrinth her, ich bin
immer noch ein Todtsteltzer.«
»Das ist mir jetzt klar«, räumte Akotai ein, der sich immer noch
darum bemühte, den Atem wieder zu beruhigen. »Aber ich musste
sichergehen. Verdammt, seid Ihr vielleicht ein Kämpfer! Bitte
vergebt Manfred. Er ist loyal, aber nicht gerade furchtbar
gescheit. Ihr habt Euch in unser aller Augen bewiesen, Sir
Todtsteltzer, und ganz Nebelwelt wird Euch folgen, wohin Ihr uns
auch führt.«
»Gut«, sagte Lewis. »Wir werden Euch brauchen.« Und dann stockte er
und blickte sich um. »Oh verdammt, wo stecken Brett und
Rose?«
Alle Welt blickte sich ebenfalls um, aber der Betrüger und die
Killerin hatten sich während des Schwertkampfs verdrückt.
»Oh Gott!«, sagte Jesamine. »Sie haben sich davongemacht. Brett war
von Anfang an viel zu scharf darauf, herzukommen und mit seinen
zweifelhaften Fertigkeiten ernsthaft Geld zu scheffeln. Ich möchte
lieber nicht darüber nachdenken, was Rose womöglich anstellt,
solange sie von der Leine ist!«
»Ist sie wirklich so gefährlich, wie man erzählt?«, erkundigte sich
Goldmann.
»Glaubt uns«, antwortete Lewis. »Ihr habt ja keine
Ahnung!«
»Meine Leute werden sie finden«, versprach Akotai. »Sollten sie
dabei auf irgendwas Besonderes achten?«
»Oh, das Übliche«, sagte Lewis. »Menschen, die auf einmal ihre
Wertsachen oder ihre Köpfe vermissen. Und durchaus möglich, dass
sie auf brennende Häuser und schreiend herumrennende Menschen
stoßen.«
»Verdammt!«, sagte Akotai. »Und das ist nur die übliche
Samstagnacht in Nebelhafen.«
Brett Ohnesorg erlebte eine ernstlich schlimme Zeit. Endlich war er dort, wohin er mit aller Macht gestrebt hatte, und alles entwickelte sich zu einer fürchterlichen Enttäuschung. Dass er ein Bastard Ohnesorgs war, das nützte ihm hier gar nichts; die Stadt wimmelte förmlich von Leuten, die Anspruch auf diesen Titel erhoben. Und seine ganze Kunstfertigkeit als Betrüger erwies sich als nutzlos in einer Stadt, wo man solche Dinge im Verlauf der Jahrhunderte zur Kunstform erhoben hatte. Hätte Rose ihn nicht beschützt, dann hätten manche seiner immer verzweifelteren Machenschaften blutige Folgen gezeitigt. Er dachte wehmütig an das Vermögen in Fremdwesenpornos, das er kurz in die Finger bekommen hatte; er dachte kurz daran, die Pinasse zu verhökern, mit der sie gelandet waren, und begnügte sich schließlich damit, in einer wahrhaft abscheulichen Kneipe Trübsal zu blasen, wo der Wein so schlecht schmeckte, wie Brett sich fühlte. Er konnte nicht mal Lewis und seinem Kreuzzug entkommen, indem er in der Menge untertauchte; Roses Anwesenheit verwehrte ihm diesen Weg. Alle Welt kannte die Wilde Rose aufgrund der Videoübertragung ihrer Arenakämpfe, und sie weigerte sich rundweg, Brett irgendwo allein hingehen zu lassen, wobei sie den begreiflichen Grund angab, dass er sich wahrscheinlich ohne sie um Kopf und Kragen bringen würde.
»Ich kann auf mich selbst aufpassen!«,
protestierte er. »Du hast mir beigebracht, wie man
kämpft.«
»Ja«, sagte sie. »Aber nicht, wie man auch Motivation dazu
entwickelt. Du bist viel zu zivilisiert für eine Stadt wie diese,
Brett. Nebelhafen ist eine Stadt der Raubtiere. Ich spüre das! Es
macht mich ... geil.«
»Ich bin in der Hölle«, sagte Brett.
Er trank jetzt schon einige Zeit lang und fragte sich trübsinnig,
wie er sich aus der Kneipe schleichen konnte, ohne die Rechnung zu
bezahlen. In diesem Augenblick holte Manfred Kramer ihn und Rose
endlich ein. Brett war von Verdrossenheit schon zu ausgewachsenen
Depressionen übergegangen, während Rose sich amüsierte, indem sie
die örtlichen Desperados zwang, die Blicke niederzuschlagen. Kramer
trat an ihren Tisch und blickte finster auf sie beide
hinab.
»Ich hatte Gil ja gesagt, dass man Euch nicht trauen kann«,
erklärte er rundheraus. »Ich wusste, dass Ihr Euch davonmachen
würdet, sobald wir Euch den Rücken zukehren. Was habt Ihr
getrieben? Habt Ihr versucht, einen von Finns Spionen zu finden und
uns zu verkaufen?«
»Haut ab!«, verlangte Brett. »Ich hasse diese Stadt, und ich hasse
Euch. Was hat man davon, ein Schwindler zu sein, wenn alle Welt
sämtliche Tricks kennt? Wo Taschendiebe ihre eigene Gewerkschaft
haben? Gott, ich bin deprimiert, und dieser Cidre hilft auch nicht.
Jemand hier hat mir erzählt, man würde eine tote Ratte in jedes
Fass werfen, um die Fermentierung zu fördern und dieses Gesöff
vollmundig zu machen. Nun, ich neige absolut dazu, dem zu glauben.
Ich weiß einfach, dass heute Abend etwas absolut Abscheuliches auf
meiner Zahnbürste auftaucht!«
»Ihr seid eine Schande«, sagte Kramer und klang beinahe zufrieden.
»Schauen wir doch mal, ob Gil seinem Glauben an den falschen
Todtsteltzer treu bleibt, sobald er erfährt, was seine Gefährten so
alles getrieben haben. Werdet Ihr mir jetzt freiwillig folgen, oder
muss ich Euch mitschleifen lassen? Ratet mal, was mir lieber
wäre!«
»Das wird mir einfach zu viel«, sagte Brett griesgrämig. »Rose,
kümmere du dich doch um ihn.«
»Klar«, sagte Rose, sprang auf, zog das Schwert und schlug Kramer
mit einem raschen Hieb den Kopf ab. Der Körper stand noch einen
Augenblick lang da, während Blut aus dem Hals spritzte, und krachte
dann zuckend zu Boden. Rose bückte sich, packte den Kopf, warf ihm
eine Kusshand zu und schleuderte ihn lässig ins Kaminfeuer an der
Rückwand. Alle übrigen Gäste hatten da schon entschieden, dass sie
längst hätten im Bett liegen sollen, und verdrückten sich geschwind
durch jeden verfügbaren Ausgang. Sogar das Kneipenpersonal. In
erstaunlich kurzer Zeit war die Kneipe leer, abgesehen von Rose
Konstantin, der kopflosen Leiche und einem plötzlich ganz
nüchternen Brett Ohnesorg. Er sprang auf, rang um Worte und kämpfte
ein selbstmörderisches Bedürfnis nieder, Rose mit dem Tisch zu
schlagen.
»Warum zum Teufel hast du das gemacht?«,
kreischte er.
»Du hast gesagt, ich solle mich um ihn kümmern«, stellte Rose fest
und reinigte die Klinge seelenruhig vom Blut.
»Damit habe ich doch nicht gemeint, dass du ihn umbringen sollst!
Das war Gil Akotais rechte Hand! Oh, Lewis kriegt einen
Herzinfarkt, wenn er davon erfährt. Kein Nebelweltler wird ihm dann
noch folgen! Und du kannst wetten, dass Lewis mir die Schuld geben
wird, nicht dir! Oh Gott, ich habe Bauchschmerzen. Wenn man
bedenkt, wen du alles hättest umbringen können ... Das gibt Lewis'
Plänen den Rest... Ich möchte nicht mal darüber nachdenken, was man
hier mit Mördern anstellt... Denk nach! Denk nach!«
»Das ist dein Spezialgebiet«, sagte Rose und steckte das Schwert
weg.
Brett marschierte auf und ab und starrte dabei die kopflose Leiche
auf dem Boden an, die immer noch zuckte, als könnte sie gar nicht
glauben, was gerade passiert war. Brett versetzte ihr ein paar
Tritte, fühlte sich aber auch danach nicht besser. »In Ordnung ...
wir könnten so tun, als hätte es jemand anderes getan. Nein,
könnten wir nicht; sie haben hier Esper. Zwar könnten sie nichts
aus unseren Köpfen herausholen, aber es gibt jede Menge Zeugen.
Denk nach! Denk nach! Verstecken wir die Leiche - ja. Ja! Und wenn
sie sie irgendwann finden, sind wir schon lange verschwunden. Rose,
heb die Leiche auf. Ich habe eine Idee.«
Rose hob die Leiche auf und warf sie sich mühelos über die
Schulter. Blut floss an ihrer purpurroten Lederkleidung herab, aber
das war für sie nicht neu. Brett zweifelte daran, dass es
irgendjemandem auffallen würde. Er gab Rose mit einem Wink zu
verstehen, sie möge ihm folgen, und ging zur Rückseite der Kneipe
und von dort in den Weinkeller hinab. Er lief in der Dunkelheit hin
und her, bis er endlich ein Cidrefass entdeckte, dass man gerade
erst geöffnet hatte. Er zeigte Rose mit drängenden Handbewegungen,
was er sich vorstellte, und sie warf die Leiche in die dunkle
Flüssigkeit. Der Cidre verschluckte Kramer mit kaum einem
Platscher, und Brett nagelte den Deckel wieder sehr gründlich fest.
Dann schoben er und Rose das Fass hinter die übrigen Fässer. Brett
trat schwer atmend und kräftig schwitzend zurück und sann über sein
Werk nach.
»Sie haben ja gesagt, sie wollten den Cidre eher vollmundig ...
Okay, verschwinden wir von hier. Und vergiss nicht, Rose: Das hier ist nie passiert!«
Einige Zeit später spazierten Brett Ohnesorg und Rose Konstantin wieder lässig in den Koboldshund hinein und äußerten sich überrascht, dass irgendjemand sie vermisst hatte. Lewis und Akotai waren in eine taktische Diskussion vertieft und reagierten kaum auf ihre Rückkehr, aber Jesamine blickte argwöhnisch von einer Autogrammstunde auf, die sie für ihre vielen Fans auf Nebelwelt improvisiert hatte. Brett erwiderte den Blick unschuldig.
»Was ist?«, fragte er. »Wir haben nur einen Spaziergang gemacht. Es war ja nicht so, dass Ihr uns hier gebraucht hättet. Haben wir etwas versäumt?«
»Ich schwöre bei Gott, dass Ihr schlimmer seid als Kinder«, sagte Jesamine und unterschrieb mechanisch ein Foto, das ein Fan ihr vorlegte. »Ich darf Euch nicht eine Sekunde lang aus den Augen lassen. Sagt mir, dass Ihr nichts Peinliches angestellt habt! Habt Ihr Manfred Kramer gesehen?«
»Nein«, antwortete Brett, obwohl sein Herz einen schmerzhaften Satz ausführte. »Hat er uns gesucht? Wir müssen ihn verfehlt haben.«
»Ich habe ihn nicht verfehlt«, sagte Rose. »Still, Liebes«, sagte Brett.»Ihr wirkt sehr hinterhältig, Brett«, meinte Jesamine. »Was habt Ihr beide angestellt?«
»Nicht annähernd so viel, wie ich gehofft hatte«, sagte Brett und lehnte sich lässig an die Wand. »Niemand in dieser Stadt kapiert ein gutes Geschäft, wenn man es ihm vorschlägt. Je schneller wir wieder von dieser Müllhalde verschwinden, desto besser.«
»Wir gehen, sobald Lewis bereit ist, und nicht vorher. Bis dahin muss ich mich um Fans kümmern. Wem soll ich das widmen, Süßer?«
Und Brett musste für sich und Rose einen Tisch suchen und dann einfach dort sitzen, äußerlich ruhig, aber innerlich zitternd, während Lewis sein Gespräch mit Akotai zu Ende führte und Jesamine absolut alles unterzeichnete, was die lange Reihe von Fans ihr vorlegte. Einige wollten das Autogramm tatsächlich auf einem Körperteil erhalten, damit sie es sich dann durch eine Tätowierung verewigen lassen konnten. Jesamine nahm das alles gelassen. Schließlich wurde entschieden, dass sich die Nebelweltler, die zu Lewis' Rebellentruppe stoßen wollten (und das waren verdammt viele!), sich der Flotte in ihren eigenen Schiffen anschließen sollten. Das war eine Frage des Stolzes und des Verfolgungswahns. Kein Nebelweltler würde sich jemals bereitfinden, auf einem imperialen Schiff zu fahren.
Und dann wollte Akotai auf die Rückkehr von Manfred Kramer warten, und Brett weinte beinahe vor Frustration. Zum Glück entschied Jesamine, dass sie genug von ihren Fans hatte, nachdem einer von ihnen ein besonders intimes Körperteil signiert haben wollte, und bestand darauf, sofort aufzubrechen. Brett hätte sie am liebsten geküsst, aber ihm war allzu klar, dass das verdächtig gewirkt hätte.
Bald schon entfernte sich die Rebellenflotte von Nebelwelt, vergrößert um eine seltsame Ansammlung sehr individuell gestalteter Nebelweltlerschiffe. Schwejksam fragte Lewis, wohin es jetzt gehen sollte, und Lewis' Antwort machte einfach jeden nervös. Shandrakor lautete sie, und jedermann sagte in unterschiedlich angewiderten, entsetzten und extrem bekümmerten Tonfällen Oh Scheiße! Jeder hatte schon vom legendären Planeten der Monster gehört. Niemand suchte ihn freiwillig auf, es sei denn, er wurde von einem sehr ernsten Todeswunsch geplagt. Jesamine und Brett stimmten zum vielleicht ersten Mal in ihrem Leben überein und fragten in weitgehend dem gleichen bestürzten Tonfall warum? Rose war, nicht weiter überraschend, die einzige Person, die von Vorfreude bewegt wurde.
»Vertraut mir«, sagte Schwejksam ernst, »alle sind schon ausgesprochen beeindruckt davon, dass Ihr und Eure Gefährten eine Reise durch die tödlichen Dschungel von Shandrakor überlebt habt. Ihr braucht niemandem etwas zu beweisen.«
»Obwohl genau das für einen Todtsteltzer typisch wäre«, mischte sich Kapitän Preiß ein, und der Rest der Brückenmannschaft nickte respektvoll.
»Ihr seid nicht hilfreich, Preiß«, fand Schwejksam. »Lewis, was ist dort zu gewinnen? Der Planet verfügt weder über Schiffe noch Waffen noch Personen, die Eure Sache unterstützen könnten. Ihr habt selbst gesagt, die dort abgestürzte alte Burg enthielte nichts mehr, was sich zu bergen lohnte. Alles, was man dort findet, sind Monster ... Oh. Oh nein ...«
»Oh ja, Admiral«, sagte Lewis.
»Ich sollte darauf hinweisen«, machte sich Preiß bemerkbar, »dass
jede Stunde, in der wir nicht Kurs auf Logres nehmen, dem Usurpator
Finn zusätzlich verfügbar wird, um sich auf die Schlacht
vorzubereiten. Es wäre eine Schande, die wenigen Vorteile
wegzuwerfen, die wir überhaupt haben.«
»Wir fahren nach Shandrakor«, beharrte Lewis. »Ich habe ihnen mein
Wort gegeben.«
»Monstern?«, fragte Schwejksam.
»Viele von ihnen waren einst Menschen«, sagte Lewis und bannte
Schwejksams Blick. »Einige von ihnen erinnern sich noch. Erinnert
Ihr Euch, Johann Schwejksam? Habt Ihr nicht an der Entscheidung
mitgewirkt, all die von Löwenstein oder Shub in Monster
verwandelten Menschen zu nehmen und sie einfach unter den übrigen
Monstern von Shandrakor abzuladen? Sie dort zurückzulassen, damit
man sie einfach vergessen konnte?«
»Robert und Konstanze haben diese Entscheidung getroffen«,
entgegnete Schwejksam. »Und ich ... habe ihnen zugestimmt. Es
bestand keine Möglichkeit, die Betroffenen zu heilen oder
wiederherzustellen. Sie nach Shandrakor umzusiedeln erschien uns
gnädiger, als sie einfach umzubringen.«
»Verzeihung«, mischte sich Preiß ein, »aber wovon sprecht Ihr
da?«
»Von einem der hässlicheren Geheimnisse des goldenen Zeitalters«,
antwortete Lewis. »Damals, als die abtrünnigen KIs von Shub noch
die offiziellen Feinde der Menschheit waren, nahmen sie
routinemäßig Menschen gefangen, stellten Experimente mit ihnen an
und verwandelten sie in ihren geheimen Labors in Monstrositäten.
Zuzeiten ging es dabei um Informationen, zuzeiten auch einfach um
psychologische Kriegsführung. Manchmal befahl Imperatorin
Löwenstein die Vierzehnte, in ihren Labors das Gleiche zu tun, sei
es auf der Suche nach neuen Waffen, sei es auch einfach zum Spaß.
Dann gab es noch die Mater Mundi, die Esper in Überesper zu
verwandeln trachtete und dabei meist scheiterte. Als dann die Große
Rebellion schließlich vorbei war und wir alle wieder Freunde
wurden, standen Robert und Konstanze vor dem Problem, was sie mit
all den übrig gebliebenen Monstern anstellen sollten, jenen
Monstern, die einst Männer und Frauen gewesen waren. Das
wundervolle goldene Zeitalter, das Robert und Konstanze
entschlossen waren zu begründen, bot keinen Raum für Monster, also
sammelten sie die Produkte der Geheimlabors ein und luden sie auf
Shandrakor ab, damit sie dort entweder überlebten oder umkamen, wie
es sich ergab. Dann gab das Imperium sich jede Mühe zu vergessen,
dass diese Kreaturen je existiert hatten.«
»Wir mussten eine Zivilisation neu aufbauen«, gab Schwejksam zu
bedenken. »Wir konnten nichts für sie tun. Wir mussten Prioritäten
setzen. Wir mussten unsere Zeit in die Probleme investieren, die
wir auch lösen konnten. Und falls das hartherzig klingt ... wir
alle hatten viel durchgemacht. Wir waren sehr müde.«
»Ich habe diesen Monstern mein Wort gegeben, dass sie wieder nach
Hause gehen können«, sagte Lewis. »Und das werden sie auch.
Zunächst als Stoßtruppen in unserem Krieg gegen Finn, und dann ...
als unsere verlorenen Kinder. Legt einen Kurs nach Shandrakor an,
Admiral.«
»Mal wieder verdammt typisch für einen Todtsteltzer«, sagte
Schwejksam. »Immer hat er Recht.«
Und so fuhr die Flotte nach Shandrakor. Einige Leute flüsterten, sie hätten zwar geschworen, dem Todtsteltzer bis in die Hölle und zurück zu folgen, dies aber nicht unbedingt wörtlich gemeint. Niemand sprach es jedoch laut aus. Außer Brett Ohnesorg, der sehr deutlich machte, dass er um nichts in der Welt wieder den Dschungel jenes Planeten zu betreten gedachte, unter keinen wie auch immer gearteten Umständen. Und um das zu beweisen, schloss er sich mit mehreren Flaschen Wein in seinem Quartier ein und verbarrikadierte die Tür. Rose schloss sich ihm widerstrebend an, um ihm Gesellschaft zu leisten und zu verhindern, dass er hysterisch wurde. Letztlich flogen nur Lewis und Jesamine mit einer schlichten Pinasse nach Shandrakor hinab. Und nur Schwejksam tauchte auf, um sie zu verabschieden.
»Die Leute sprechen schon von der Torheit dieses Todtsteltzers«, bemerkte er. »Alle sind sich darin einig, Euch für sehr mutig zu halten, aber es werden schon heftig Wetten abgeschlossen, in welchem Zustand Ihr wohl zurückkehrt oder ob überhaupt.«
»Ich hoffe, Ihr setzt auf uns«, sagte
Jesamine. »Natürlich tue ich das«, sagte Schwejksam. »Ich konnte
den wirklich schlechten Chancen noch nie widerstehen.« Er wandte
sich wieder Lewis zu. »Erinnern sich wirklich noch einige daran,
dass sie mal Menschen waren? Wir hatten gehofft... nach all dieser
Zeit?«
»Ja«, sagte Lewis. »Sie erinnern sich an ihr früheres Leben, an die
Menschen, die sie kannten, die Planeten, von denen sie stammen. Und
sie träumen davon, wieder nach Hause zurückzukehren.«
»Lewis, das geht nicht!« Schwejksam blickte ihn flehend an. »Wir
wissen immer noch nicht, wie wir sie wieder in den alten Zustand
zurückversetzen können. Nicht mal Shub kennt eine Methode. Was
könnten diese Monster auf zivilisierten Welten tun oder sein? Sie,
die weder Mensch noch Fremdwesen sind, wie könnten sie je dorthin
passen? Alle, die sie einst kannten, sind längst tot. Man würde sie
in den Zoo stecken!«
»Ich habe ihnen mein Wort gegeben«, sagte Lewis.
»Dann ... seid Ihr für sie verantwortlich, Todtsteltzer.
Hoffentlich leistet Ihr dabei bessere Arbeit als ich, als sie in
meine Verantwortung fielen.«
Lewis lenkte die Pinasse in den Albtraumdschungel von Shandrakor und folgte dabei einem Kurs, der ihn mal zwischen die oberen Baumwipfel führte, mal wieder daraus hervor, bis er schließlich auf der Lichtung landen konnte, wo die Todtsteltzerburg begraben lag. Die Luft erwies sich als heiß und feucht und stickig, als Lewis und Jesamine von Bord gingen und auf das dunkle, dornige Gras hinabstiegen. Insekten summten wild in der schweren Luft herum, und von allen Seiten drangen das Gebrüll und die Schreie des Lebens und Sterbens auf Shandrakor heran, wo jede Lebensform Jagd auf jede andere Lebensform machte. Lewis blickte sich vorsichtig um und hielt die Hände griffbereit neben den Waffen, ohne diese gleich ganz zu packen. Bislang war niemand sonst auf die Lichtung vorgedrungen. Sie sah weitgehend noch so aus, wie er sie in Erinnerung hatte, zeigte allerdings keine Spur mehr von der umfassenden Verwüstung, die die Truppen des Imperators bei ihrem letzten Angriff angerichtet hatten. Der schnell wachsende Dschungel hatte die Narben schon zugedeckt. Lewis konnte nicht mal erkennen, wo der Eingang zur Burg gewesen war, ehe die uralten Lektronen der Burg diese hochgejagt hatten, um dem Clan Todtsteltzer damit einen letzten Dienst zu erweisen. Große Bäume mit dicken Stämmen bildeten einen schützenden Ring um die Lichtung, und Schatten bewegten sich zwischen ihnen. Jesamine wischte sich mit einem Tuch den Schweiß aus dem Gesicht.
»Es gibt doch tatsächlich so etwas wie zu viel Sonnenschein, Darling. Gott, ist das heiß! Und ich verabscheue diese Feuchtigkeit nun wirklich. Sie tut meiner Haut überhaupt nicht gut. Ich weiß einfach, dass ich nur wieder diese scheußlichen Hitzebläschen bekomme.« Sie blickte sich um. »Wo bleiben sie? Sie müssen doch gehört haben, wie wir gelandet sind. Weißt du, Lewis, dies scheint mir keine deiner besseren Ideen!«
»Möchtest du sie auch im Stich lassen?«»Nein, im Grunde nicht, Süßer, aber...
Stoßtruppen, ja! Das sehe ich ein. Aber was kommt dann?«
»Ich habe mein Wort als Todtsteltzer gegeben.«
Jesamine seufzte. »Ja, Liebster, das hast du. Was sehr ehrenhaft
war. Du kannst dich aber nicht für alles schuldig fühlen, was das
Imperium im Namen deines legendären Ahnen angestellt
hat.«
»Ich kann immerhin versuchen, die Dinge wieder in Ordnung zu
bringen. Und das werde ich! Das muss ich! Das bedeutet es, ein
Todtsteltzer zu sein. Besonders, wenn man der letzte
ist.«
Er brach ab, und er und Jesamine drehten sich scharf um. Und eines
nach dem anderen kamen die Monster zwischen den Bäumen hervor und
wagten sich auf die Lichtung, tauchten im Tageslicht auf wie Grauen
erregende Gespenster aus den ewigen Schatten des Dschungels. Es
waren Monster jeder Art, große und kleine und jede denkbare
Mischung von Kreaturen und Genen. Langsam näherten sie sich in
stachelbewehrten Panzern aus allen Richtungen, verformte Gestalten
mit zu vielen Beinen und Augen oder nicht genug davon - Gestalten,
so abscheulich oder ergreifend, dass sich Lewis und Jesamine
anstrengen mussten, um nicht den Blick abzuwenden. Jesamine hielt
sich ganz dicht an Lewis, fast zu Tränen gerührt von den
grauenhaften Gestalten, die einst Männer und Frauen gewesen waren.
Nach wie vor hielt sie die Hand dicht an der Pistole.
Die Monster füllten die Lichtung inzwischen aus und drängten
langsam von allen Seiten heran, bis sie auf einmal wie auf ein
ungesehenes und ungehörtes Signal hin stoppten. Eine Kreatur trat
vor und blieb vor Lewis und Jesamine stehen. Sie war grauenhaft von
innen nach außen gestülpt, und die freiliegenden roten und
purpurnen Organe glänzten feucht im hellen Sonnenlicht. Ein mehr
oder weniger menschenähnliches Gesicht war über die gehäutete Brust
gedehnt. Der Mund war breit und sehr beweglich, und die weit
auseinander stehenden Augen verrieten keine begreifliche Emotion.
Der aufgequollene Leib baumelte in einem Käfig aus dicht bepelzten
Spinnenbeinen.
»Ihr seid zurückgekehrt«, sagte sie.
»Ja«, sagte Lewis. »Ich sagte Euch ja, dass ich es tun
würde.«
»Und Ihr habt Euer Wort gehalten, Todtsteltzer.« Die Stimme der
Kreatur kam als leises Zischen, die Worte gedehnt und seltsam
akzentuiert. »Ich denke, ich hatte einmal einen Namen, aber das war
vor langer Zeit, und ich habe ihn vergessen. Ich erinnere mich an
ein paar Einzelheiten, kurze Einblicke in Heim und Familie, aber
nicht mehr, ob ich Mann oder Frau war. Es fällt mir heute sogar
schwer, überhaupt noch zu wissen, was diese Worte bedeuten. Ich bin
Sprecher; ich bin die Stimme jener, die sich noch daran erinnern,
einmal etwas anderes als Monster gewesen zu sein. Warum seid Ihr
zurückgekehrt, Todtsteltzer?«
»Weil ich Euch ein Versprechen gegeben hatte«, sagte Lewis. »Jetzt
kommandiere ich eine Flotte. Wir werden nach Logres zurückkehren,
was zu Eurer Zeit Golgatha genannt wurde, und einen falschen
Imperator vom gestohlenen Thron stürzen. Ich möchte, dass Ihr uns
begleitet. Ihr alle. Seid meine Stoßtruppen in diesem Krieg. Und
anschließend ...«
»Ja?«, fragte Sprecher nach. »Was kommt anschließend?«
»Kehrt Ihr alle nach Hause zurück. Wir werden das durchsuchen, was
an Unterlagen übrig ist, und unser Bestes tun, um herauszufinden,
wer und was jeder von Euch war. Falls alles andere scheitert,
werden Esper die Wahrheit aus Euren Gedanken ausgraben. Aber
verdammt, jeder Einzelne von Euch wird nach Hause zurückkehren!
Niemand wird vergessen, niemand zurückgelassen. Was immer getan
werden kann, damit es Euch ... besser geht, wird geschehen. Die
Wissenschaft hat in zweihundert Jahren viel erreicht. Natürlich
hängt das alles von unserem Sieg im Krieg ab ...«
»Wir können kämpfen«, sagte Sprecher. »Darauf verstehen wir uns.
Kann man uns wirklich ... heilen? Wieder zu Menschen
machen?«
»Ich weiß nicht«, sagte Lewis aufrichtig. »Aber der selige Owen ist
zurückgekehrt und mächtiger denn je. Ich habe gesehen, wie er
Wunder vollbrachte. Und als letztes Mittel bleibt immer noch das
Labyrinth des Wahnsinns. Es hat uns verwandelt; vielleicht kann es
das auch mit Euch tun.«
»Wir folgen Euch«, sagte Sprecher, »und gehen auf Euren Namen und
Euer Wort das Risiko ein. Aber falls wir für Euch kämpfen und nicht
fallen, müsst Ihr versprechen, uns eher zu töten als hierher
zurückzubringen. Wir leben entweder als Menschen oder sterben als
Monster. Wir könnten es nicht mehr ertragen ... ohne Hoffnung leben
zu müssen.«
»Ich verstehe das«, sagte Lewis. »Ich verspreche es; ich lasse Euch
nicht im Stich.«
»Nicht alle von uns möchten mitkommen«, sagte Sprecher. »Manche
haben schon gesagt, dass sie Shandrakor nicht verlassen. Sie
erinnern sich nicht mehr an ein anderes Leben als das, was sie hier
haben, oder scheren sich womöglich nicht mehr darum. Der Dschungel
ist jetzt ihre Heimat. Sie gehören hierher.«
»Falls ich mit ihnen reden könnte ...«, sagte Lewis.
»Sie würden Euch töten«, wandte Sprecher ein. »Es sind nur noch
Monster.«
»Mein Angebot bleibt bestehen«, sagte Lewis. »Solange irgendeiner
von ihnen lebt. Macht Euch bereit, meine Freunde. Eure Reise nach
Hause beginnt.«
Ferngesteuerte Frachtschiffe schwebten auf Lewis' Befehl hin herab
wie Blätter im Herbst; es waren Hunderte und damit genug, um von
den Größten bis zu den Kleinsten sämtliche Kreaturen von der
Lichtung zur Flotte hinaufzubringen. Die Schiffe waren
ferngesteuert, weil kein menschlicher Pilot den legendären Monstern
von Shandrakor zu nahe kommen wollte. Die Monster hatten
Verständnis dafür. Sie waren ihrerseits nicht bereit, sich Menschen
zu zeigen. Und so verteilte man sie auf die diversen Sternenkreuzer
und brachte sie dort in den meist leeren Frachträumen unter, von
den Besatzungen getrennt durch Schuldgefühle und Angst und schwer
verriegelte Türen.
Lewis' nächster Zielort war sein Heimatplanet Virimonde, und niemand erhob dagegen Einwände. Alle hatten Verständnis für seinen Wunsch, nach Hause zurückzukehren und mit eigenen Augen die entsetzlichen Untaten anzusehen, die auf Finn Durandals Befehl dem Clan Todtsteltzer und seiner uralten Burg angetan worden waren. Sie mussten ihm unwirklich erscheinen, solange er sie nicht mit eigenen Augen gesehen hatte. Und überhaupt niemand zweifelte daran, dass die Menschen dieses Planeten an der Seite der Rebellenflotte kämpfen wollten. Dabei fiel dem kenntnisreichen Kapitän Preiß die Aufgabe zu, Lewis zu erklären, warum sich das Volk von Virimonde noch nicht voller Empörung über das Massaker erhoben hatte.
»Zwei Materiewandler bewegen sich auf einer hohen Umlaufbahn um Virimonde«, sagte Preiß, sorgsam auf einen ruhigen und neutralen Tonfall bedacht. »Sollte auch nur eine Spur von Auflehnung auf dem Planeten erkennbar werden, würden ihn die Materiewandler in ein lebloses Ödland verwandeln. So lautet Finns direkter Befehl. Er hat die Maschinen zweifellos nur deshalb noch nicht eingesetzt, weil er Euch mit ihnen unter Druck setzen möchte, sobald Ihr wieder auftaucht.«
Lewis nickte. Er wusste, wie Finn dachte. »Die Zielerfassungslektronen sollen auf die Materiewandler programmiert werden. Ich möchte, dass beide Maschinen in der Sekunde, in der wir aus dem Hyperraum fallen, mit allen verfügbaren Waffen angegriffen werden. Leistet gute Arbeit, Preiß! Wir bekommen keine zweite Chance. Ihr könnt jede Wette eingehen, dass Finn die Maschinen so programmiert hat, dass sie Virimonde in dem Augenblick angreifen, an dem Rebellenschiffe eintreffen. Anschließend nehmen wir uns Zeit, nach versteckten Fallen im Orbit zu suchen. Geht dabei sehr gründlich zu Werk, denn Ihr könnt Euch darauf verlassen, dass Finn selbst auch sehr gründlich war. Wir landen erst auf Virimonde, wenn wir genau wissen, dass es sicher ist. Für die Menschen dort wie für uns.«
Letztlich war es genau so einfach. Die beiden Materiewandler leuchteten schön auf, als die Flotte sie auseinander pustete, und es dauerte nicht lange, die Orbitalminen und anderen hässlichen Überraschungen zu finden, die Finn zurückgelassen hatte. Lewis stellte Verbindung mit der Hauptstadt her und wurde sofort willkommen geheißen und eingeladen zu landen. Ihm wurden Paraden und Feiern in der Stadt versprochen, aber Lewis lehnte höflich ab.
Er musste sich erst ansehen, was von seiner
Burg übrig war. Dem Haus seiner Familie.
Lewis und Jesamine flogen erneut allein mit der Pinasse hinab.
Brett war inzwischen ernsthaft betrunken, aber nach wie vor im
vollen Besitz seines Selbsterhaltungstriebs, und so lehnte er ab.
Angeblich, weil man auf Virimonde nichts fand, was sich gelohnt
hätte zu stehlen, aber im Grunde, weil er nicht das Risiko eingehen
wollte, dass Rose wieder eine wichtige Persönlichkeit umbrachte. Er
traute in einem solchen Fall den eigenen Nerven nicht mehr. Und
Schwejksam kam nicht mit, weil er vor Jahrhunderten einmal zu einer
von Löwenstein entsandten Invasionstruppe gehört hatte, die das
Volk hier in die Barbarei zurückgeschlagen hatte. Diese Truppe
leistete damals dermaßen gute Arbeit, dass sich der Planet bis
heute nicht ganz erholt hatte. Millionen Menschen waren umgekommen.
Und Schwejksam hatte daran mitgewirkt.
»Ihr seid wirklich herumgekommen, wie?«, fragte Jesamine
aufgebracht. »Sollten wir sonst noch etwas von Euch erfahren,
irgendwelche sonstigen Gräueltaten im Dienst der Eisernen
Hexe?«
»Jede Menge«, antwortete Schwejksam, »aber ich erzähle es Euch
nicht. Es liegt lange zurück. Wir alle waren damals noch ganz
andere Menschen.«
»Warum habt Ihr Löwenstein so lange gedient?«, erkundigte sich
Lewis. Er klang ganz so, als interessierte es ihn aufrichtig, also
erklärte Schwejksam es ihm.
»Sie war meine Imperatorin. Und Loyalität war damals das Einzige,
was ich kannte.«
Lewis und Jesamine fuhren mit der Pinasse nach Virimonde hinab. Es war eine ruhige Reise. Lewis kannte den Weg nach Hause. Jesamine behielt ihn besorgt im Auge. Er war sehr still. Sie hätte ihm gern geholfen, wusste aber nicht wie. So viel war Lewis seit seinem letzten Besuch hier widerfahren, und der leichteste Gesprächspartner war er noch nie gewesen, so weit es persönliche Dinge anbetraf. Inzwischen hatte er fast alles verloren, woraus er sich je etwas gemacht hatte, von ihr, Jesamine, mal abgesehen: Familie und Heim, Clan und Burg. Seit langem hielten ihn Wut und Rachedurst und Pflichtgefühl in Gang, und Jesamine konnte nicht umhin, sich zu fragen, was aus Lewis wurde, wenn ihm dieser Treibstoff irgendwann ausging.
Die Funkanlage meldete sich auf einmal und beendete damit eine ungemütliche Stille. »Hier spricht die Virimonde-Funkzentrale. Willkommen daheim, Sir Todtsteltzer. Wir wussten von Anfang an, dass Ihr kommen würdet. Eine wirklich eindrucksvolle Flotte habt Ihr da aufgesammelt. Man kann sich immer darauf verlassen, dass ein Todtsteltzer einen stilvollen Auftritt hat. Man hat mich aufgefordert, Euch vor dem gegenwärtigen Zustand Eurer Burg ... zu warnen ...«
»Also stimmt es?«, fragte Lewis in ruhigem
Tonfall. »Sind sie alle tot?«
»Ich fürchte ja, Sir Todtsteltzer.« Die Stimme wurde leise und
respektvoll, verriet aber nichts. »Wir dachten, ein paar Vettern
und Kusinen wären vielleicht entkommen, aber inzwischen wurden
sämtliche Leichen identifiziert. Wir sind sicher, dass damals
niemand fehlte. Jeder, der den Clannamen trug, wurde umgebracht.
Die Kreaturen des Imperators sind sehr gründlich vorgegangen. Ihr
seid nun der Letzte in direkter Nachfolge.«
»Nein«, entgegnete Lewis. »Es gibt noch jemanden. Owen ist
zurückgekehrt.«
»Dann sind die Gerüchte wahr? Er ist zurück?«
»Ja. Er ist losgezogen, um sich dem Schrecken
entgegenzustellen.«
»Wir leben in einer Zeit wiedergeborener Helden. Eine Abordnung
wird Euch auf dem Gelände der Burg empfangen, Sir
Todtsteltzer.«
»Ich denke nicht, dass ich derzeit jemanden treffen möchte«, wandte
Lewis ein.
»Ihr werdet das hören wollen: der Clan Todtsteltzer besteht fort.
Er ist nicht untergegangen. Funkzentrale Virimonde,
Ende.«
»Na ja«, sagte Jesamine leichthin, als das Funkgerät ausgegangen
war. »Das war ... rätselhaft. Was denkst du, haben sie wohl
gemeint?«
»Ich weiß nicht«, sagte Lewis. »Es ist mir egal. Ich möchte nur
nach Hause.«
Er landete mit der Pinasse auf dem alten Familienlandeplatz, der
mit dem Clanwappen verziert war und auf dem Gelände jener antiken
Burg lag, die dem Clan Todtsteltzer seit so vielen Generationen ein
Zuhause gewesen war. Von der Burg war nicht mehr viel übrig.
Jesamine folgte Lewis nervös, als er aus der Pinasse stieg und den
Landeplatz überquerte, um schließlich vor den von Rauch und Feuer
geschwärzten Ruinen stehen zu bleiben und sie anzustarren. Der
komplette Ostflügel war weggesprengt worden, sodass die Innenräume
und Flure jetzt dem Wind und Regen offen ausgeliefert waren. Die
Mauern des Hofs waren verschwunden, und Front- und Westflügel
zeigten sich zernarbt von den unregelmäßigen Einschüssen der
Disruptoren. Sogar das Dach war an mehreren Stellen von
Strahlenwaffen und Sprengsätzen aufgerissen worden. Finns Leute
hatten viel Mühe aufgewandt, um die Burg zu vernichten, aber
trotzdem standen die meisten ihrer Mauern noch, trotzig wie eh und
je.
Jesamine packte Lewis am Arm, versuchte ihn mit ihrer Nähe zu
trösten. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass die Burg so groß war,
Lewis. Noch immer ist sie ... sehr eindrucksvoll.«
»Ich hatte immer geglaubt, ich würde eines Tages zurückkehren«,
sagte Lewis. »Ich würde nach meiner Dienstzeit als Paragon hier
meine Familie leiten. Wir würden alle vor dem Kamin in der großen
Halle sitzen, während ringsherum die Hunde liegen, und ich würde
Geschichten aus der größten Stadt auf dem größten Planeten des
Imperiums erzählen. Jetzt ist alles dahin, alles, aus dem ich mir
etwas gemacht habe ... Meine Eltern sind tot. Ich hatte nie
Gelegenheit, ihnen von dem zu erzählen, was ich tat. Ich wollte
ihnen davon erzählen, damit sie stolz auf mich wären.«
»Sie wussten davon«, sagte Jesamine. »Und natürlich waren sie stolz
auf dich. Sie waren deine Eltern.«
»Sie sind dahin, und ich bin allein. Ich möchte meine Mutti. Ich
möchte meinen Vati.«
Jesamine umarmte ihn, aber er weinte nicht.
Beide drehten sie sich abrupt um, als sie allerlei Fluggerät näher
kommen hörten. Lewis schob Jesamine weg und griff nach den Waffen.
Raumschiffe füllten den Himmel aus und kamen aus allen Richtungen.
Es waren so viele, dass sie die Sonne verdeckten: Transporter,
Frachter, kleine Familienschiffe. Sie landeten eins nach dem
anderen, füllten sämtliche Landeplätze und gingen dann auf alle
verfügbaren Plätze in der Landschaft ringsherum nieder. Hunderte
Männer und Frauen stiegen aus und näherten sich schnurstracks den
Ruinen der Todtsteltzerburg. Sie erblickten Lewis, riefen freudig
seinen Namen und jubelten und winkten, und fast widerstrebend nahm
er die Hand von der Pistole. Die Menge strömte heran und sang
seinen Namen wie einen Kriegsruf. Die Menschen sammelten sich vor
ihm und liefen dort unsicher durcheinander. Schließlich sank ein
Mann ganz vorn auf ein Knie, und alle folgten seinem Beispiel und
wandten Lewis die strahlenden Gesichter zu.
Der Erste, der niedergekniet war, kam Lewis vertraut vor, und Lewis
erinnerte sich, dass es Michel du Bois war, der einst als
Abgeordneter von Virimonde im Parlament gesessen hatte und der
heute als Verbannter und Gesetzloser lebte wie Lewis. Früher waren
sie Rivalen um die Gunst Virimondes gewesen, sogar Feinde, aber du
Bois hatte sich seit ihrer letzten Begegnung sehr verändert. Er
blickte aus wilden Augen zu Lewis auf, Augen, die fanatisch und
vielleicht ein bisschen verrückt wirkten. Er verbeugte sich
ruckhaft vor Lewis und ignorierte Jesamine vollständig.
»Willkommen zu Hause, Sir Todtsteltzer! Sämtliche Familien
Virimondes haben Vertreter geschickt, um Euch zu ehren. Wohin Ihr
geht, dahin folgen wir Euch. Die gesamte Bevölkerung des Planeten
hat bei Eurem Namen und Eurem Blut geschworen, am Durandal und
seinen Leuten Rache zu üben. Wir stehen Euch zur Verfügung, damit
Ihr uns in die Schlacht führt. Wir alle sind jetzt
Todtsteltzers.«
»Das ist mal Leidenschaft«, murmelte Jesamine. »Nimmt er Drogen
oder so was?«
»Still!«, mahnte Lewis. Er nickte du Bois zu. »Euer Auftreten hat
sich seit unserer letzten Begegnung sehr verändert«, sagte er
vorsichtig.
»Die Welt hat sich verändert«, erwiderte du Bois, ohne zu blinzeln.
»Meine Loyalität gilt von jeher Virimonde. Das wisst Ihr. Finn hat
sich als unwürdig und als Feind erwiesen. Als Feigling und Tier.
Nehmt uns mit nach Logres, Sir Todtsteltzer, und wir zerren ihn vom
Thron und hängen ihn an der Mauer des Palastes auf.« Er brach kurz
ab und blickte an Lewis vorbei auf die Burgruine. »Eine Tante von
mir war eine Todtsteltzer. Aus einem Seitenzweig, aber sie trug den
Namen mit Stolz. Sie starb hier mit dem übrigen Clan. Sie war immer
gut zu mir. Wir alle haben hier Menschen verloren, die uns nahe
standen.«
»Ich wusste gar nicht, dass wir verwandt sind«, sagte Lewis. »Ihr
hattet es nie erwähnt.«
»Ich wollte aus eigener Kraft meinen Weg gehen, meinen eigenen Wert
beweisen, nicht über familiäre Verbindungen«, erklärte du Bois.
Einen Moment lang wirkte er fast normal, aber dieser Augenblick
verging. »Wir haben geschworen, Todtsteltzers zu sein, jeder Mann
und jede Frau auf diesem Planeten, und Eurer Führung zu
folgen.«
Die riesige Menge reagierte mit zustimmendem Gebrumm, ein fast
tierhaftes Knurren des Zorns und der Entschlossenheit.
»Wehe allen, die den Zorn Virimondes provozieren«, murmelte Lewis.
»Sehr gut, Michel. Bringt diese Leute hier weg und organisiert sie.
Ich möchte alle, die zum Aufbruch bereit sind, in zwei Stunden
startklar haben - in allem, was fliegt. Die Flotte wartet auf Euch,
und sie wird jedem Platz bieten, der mitkommen und kämpfen möchte,
aber kein Schiff hat. Auf wie viele können wir zählen?«
»Jeder Mann und jede Frau hat geschworen, Euch zu folgen«,
antwortete du Bois schlicht.
»Jetzt mal langsam!«, meldete sich Jesamine zu Wort. »Jeder? Die
ganze erwachsene Bevölkerung?«
»Was hier verübt wurde, hat alle berührt«, sagte du Bois. »Jeder
hier wurde in Owens Namen und zu seiner Ehre als Krieger erzogen.
Jetzt, da er zurückgekehrt ist, sollten wir ihn
enttäuschen?«
Er stand auf, drehte sich um und gab Lewis' Anweisungen an die
Menge weiter, und alle brüllten zustimmend. Du Bois redete weiter
und stachelte die Menschen mit großartiger Rhetorik zum Kampf auf.
Lewis und Jesamine überließen ihm diese Aufgabe und spazierten
langsam durch den Innenhof dessen, was einst eine mächtige Burg
gewesen war.
»Warum haben sie nicht mal versucht, sie wiederaufzubauen?«, fragte
Jesamine. »Das Grundgerüst wirkt nach wie vor recht stabil. Sie
hätten zumindest einen Anfang machen können.«
»Es lag nicht an ihnen, etwas zu tun«, wandte Lewis ein. »Sie haben
auf meine Entscheidung gewartet. Und außerdem ist die Ruine der
Beweis für ein Kriegsverbrechen. Ein Anblick, der die Menschen zum
Aufstand stimuliert. Ich gehe mal hinein und sehe mir an, wie
schlimm die Schäden ausgefallen sind. Du brauchst nicht
mitzukommen, Jes.«
»Natürlich komme ich mit, Süßer. Sogar Todtsteltzers brauchen
zuzeiten jemanden, auf den sie sich stützen können.«
Die erste üble Sache, auf die sie stießen, war ein gewaltiger
Müllhaufen vor dem eingeschlagenen Frontportal. Finns Leute hatten
hier sämtliche Habseligkeiten der Todtsteltzers aufgehäuft, die
sich weder zu plündern noch zu zerschlagen lohnten. Sie hatten
eindeutig versucht, den Müllhaufen in Brand zu stekken, aber es war
ihnen nicht gelungen. Lewis näherte sich langsam, fast vorsichtig.
Er kannte einige Gegenstände, versuchte aber nicht, etwas
anzufassen oder zu bergen. Sein hässliches Gesicht wirkte immer
starrer und härter. Letztlich wandte er dem Müllhaufen den Rücken
zu wie einem Grab, und ging zum offenen Frontportal. Jesamine
folgte ihm und wusste dabei nicht recht, ob er sich ihrer
Anwesenheit überhaupt noch bewusst war.
Innerhalb der Burg erwiesen sich die Schäden als noch schlimmer,
falls das überhaupt möglich war. An Schwachpunkten waren
Sprengsätze gezündet worden, um die Burg zum Einsturz zu bringen,
aber die dicken, massiven Mauern hatten ihnen standgehalten, auch
wenn sie teilweise durchlöchert und aufgesplittert waren, sodass
überall Schutt herumlag. Böden und Decken hingen durch und wiesen
Lücken auf, hielten aber noch. Todtsteltzerburgen waren von jeher
so konstruiert, dass sie viel aushielten. Todtsteltzers führten
schließlich ein gefährliches Leben, und ihre Erinnerungen reichten
weit zurück. Jesamine folgte Lewis, während dieser durch Zimmer und
Flure wanderte und dabei den Spuren der Verwüstung entweder auswich
oder über sie hinwegstieg. Das Mobiliar war zertrümmert, die
Bücherregale umgekippt, jahrhundertealte Wandteppiche und Bilder
heruntergerissen und zerstört. Alles von offenkundigem Wert war
geraubt worden, und überall fand man Flecken, wo Finns Kreaturen
sich erleichert hatten wie Hunde, die ihr Revier
markierten.
»Finn wusste, dass er mir damit wehtun würde«, sagte Lewis fast
lässig. »Beinahe so, wie der Verlust von Mutti und Vati und der
übrigen Familie. Damals, als wir noch Freunde waren und die Welt
noch Sinn ergab, verbrachten er und ich oft lange Wochenenden hier.
Er war mein Gast, und ich zeigte ihm alles. Er muss gewusst haben,
wie viel mir diese Burg und ihre Geschichte bedeuteten. Ich habe
ihm damals alles davon erzählt, und warum auch nicht? Er war mein
Freund. Was Owen wohl sagt, wenn er das hier sieht? Sie war die
Pflicht meiner Familie: die Treuhandschaft über diese Burg bis zu
seiner Rückkehr. Die Burg war von jeher mehr als unser Besitz. Und
wir haben Owen enttäuscht.«
»Er wird es verstehen«, meinte Jesamine. »Er hat selbst erfahren,
wie es ist, wenn man verraten wird.«
Sie stiegen eine zerbröckelnde, schadhafte Treppe zum nächsten
Stockwerk hinauf. In der Mitte klaffte eine mehrere Fuß breite
Lücke. Sie sprangen lässig darüber hinauf, ohne groß nachzudenken
oder sich anzustrengen, und bemerkten erst dann, was sie getan
hatten, und sahen sich die Lücke an. Jesamine beugte sich vor und
blickte in den tiefen Abgrund, und sie packte Lewis fest am
Arm.
»Wow!«, sagte sie atemlos. »Ich kann gar nicht glauben, dass wir
das gerade getan haben.«
»Jes, du drückst mir den Arm ab.«
»Sieh dir nur an, wie tief das ist! Sieh dir mal das Loch an! Und
wir sind darüber hinweggesprungen, als wäre es gar nichts ... In
der Zeit vor dem Labyrinth hätte ich einen solchen Sprung nicht mal
geschafft, wenn du mich mit dem Viehtreiber angespornt
hättest.«
»Jes, mein Arm ...«
»Oh Verzeihung!«
»Wir verändern uns«, sagte Lewis und rieb sich den Arm. »Wir
verwandeln uns fortlaufend und werden besser, wenn auch in kleinen
Schritten, die wir nicht immer bemerken.«
Und urplötzlich sprinteten sie los und stürmten mit
übermenschlicher Schnelligkeit die restlichen Stufen hinauf. Auf
dem oberen Treppenabsatz angekommen, ohne auch nur schwer zu atmen,
blickten sie zurück auf die Treppe, die sich langsam von der Wand
löste und auf das tiefere Stockwerk hinabstürzte. Sie schlug schwer
auf und zerbrach. Lewis und Jesamine blickten einander
an.
»Wir wussten, dass es passieren würde!«,
sagte Jesamine langsam. »Wir ... haben es gespürt. Das ist jetzt
aber ernsthaft unheimlich!«
»Es würde mir seit einiger Zeit schwerfallen, etwas aus unserem
Leben anzuführen, das nicht unheimlich wäre«, sagte Lewis.
»Zweifellos gewöhnen wir uns irgendwann daran.«
»Das hoffe ich doch«, sagte Jesamine. »Ich weiß nicht, ob meine
Nerven noch viel mehr davon verkraften. Das ist ja schlimmer als
ein Premierenabend!«
Ohne Eile spazierten sie weiter durch die verwüstete Burg. Zu hören
waren nur der Wind, der durch die vielen Löcher pfiff, und
gelegentlich das Ächzen von Boden oder Wänden sowie Lewis' und
Jesamines leise Schritte. Sie blickten in jedes Zimmer, aber nichts
war unberührt und unbesudelt geblieben. Finns Kreaturen hatten
alles gründlich geschändet.
»Du hättest die Burg mal zu ihren besten Zeiten erleben sollen«,
sagte Lewis schließlich. »Sie war ... prachtvoll, enthielt die
gesammelten Schätze und Wunder aus Jahrhunderten. Eine
Familiengeschichte, die bis ins Erste Imperium zurückreicht.
Gemälde und Antiquitäten und Kunstwerke, manche davon so alt, dass
wir nicht mehr genau wussten, was sie darstellten oder welche
Bedeutung sie mal gehabt hatten. Eines Tages wäre all das mein
gewesen, um es zu genießen und zu bewahren. Ich wollte es mit dir
teilen, Jes.«
»Und das wirst du auch«, sagte Jesamine, klammerte sich an seinen
Arm und legte den goldenen Kopf auf seine Schulter. »Es kann neu
aufgebaut und restauriert werden. Ich bin richtig reich, weißt du
noch? Ich habe Geld auf Konten im ganzen Imperium, wo Finns Leute
es nicht mal dann finden könnten, wenn sie einen Überesper und eine
Wünschelrute benutzten. Ich besitze mehr Geld, als ich in einem
Leben ausgeben könnte, und es wird langsam Zeit, es sinnvoll zu
verwenden. Ich kann zwar nicht die Schätze zurückbringen, die du
verloren hast, und die Dinge, die dir so viel bedeutet haben - das
weiß ich. Aber die Todtsteltzerburg kann prachtvoll
wiederauferstehen. Wir sorgen dafür. Wenn dieser ganze Wahnsinn
vorbei ist, bringen wir das wieder in Ordnung. Du wirst
sehen.«
»Es wäre nicht das erste Mal, dass diese alte Stätte neu aufgebaut
wird«, räumte Lewis ein. »Todsteltzers führen häufig ... ein
dramatisches Leben.«
»Wie fühlst du dich, Lewis?«
»Ich freue mich, dass du hier bei mir bist. Und ich freue mich,
dass ich hergekommen bin und mir das angesehen habe. Es erinnert
mich an die älteste Wahrheit aus dem Überlieferungsschatz meiner
Familie: dass der Clan Todsteltzer von Bestand ist, egal wie
schlimm die Lage wird. Wir vergeben niemals, wir vergessen niemals,
und wir stürzen unsere Feinde
- was immer dafür nötig wird.«
Einige Zeit später führte seine Pinasse eine Flottille diverser
Schiffe von Virimonde aus in den Weltraum, um sich der wartenden
Flotte anzuschließen und deren Kräfte mehr als zu verdoppeln. Der
Clan Todtsteltzer zog in den Krieg.
Auf dem Flaggschiff Verwüstung streiften Brett Ohnesorg und Rose Konstantin jetzt schon seit einiger Zeit durch die Stahlkorridore, darauf bedacht, in Schwierigkeiten zu geraten. Brett war der Wein ausgegangen, und er hatte Langeweile; immer eine gefährliche Kombination. Also spazierte er los, und Rose begleitete ihn, denn was immer Brett ausheckte, es versprach auf jeden Fall interessant zu werden. Niemand sprach ihnen das Recht ab, sich dort herumzutreiben, wo immer sie auftauchten; sie waren Gefährten des Todtsteltzers und demzufolge vertrauenswürdig. Noch mehr Dummköpfe, dachte sich Brett. Er stieg immer tiefer ins Schiff hinab und gelangte in Sektionen, die Fahrgäste nur selten zu sehen bekamen. Brett war entschlossen, etwas Amüsantes zu unternehmen, und sei es auch nur, um seine Unabhängigkeit von Lewis zu demonstrieren. Außerdem war jetzt, nachdem die Trinkerei ein Ende hatte, nichts sonst mehr zu tun, außer Sex mit Rose, und es gab Grenzen dafür, wie weit seine Nerven da mitspielten.
»Irgendwo muss auf diesem Schiff ein Destillierapparat zu finden sein«, knurrte er. »Oder ein Meditech, der Gefechtsdrogen nachmacht. Etwas, was einem verzweifelten Menschen zu einem behaglichen Urlaub vom eigenen Schädel verhilft. Auf der Krankenstation habe ich es schon probiert, aber Jesamine hat die Ärzte vor mir gewarnt, dieses Miststück!«
»Warum greife ich mir nicht einfach jemanden und schlage auf ihn ein, bis er uns verrät, wo wir die guten Sachen finden?«, schlug Rose vernünftig vor.
Brett zuckte zusammen. »Lieber nicht! Wir sind ohnehin schon nicht sonderlich beliebt. Als ich zuletzt in die Hauptmesse hinabstieg, um ein bisschen zu essen und nette Gesellschaft zu finden und vielleicht ein freundschaftliches Würfelspiel anzufangen, hat sich jeder, den ich ansprach, entschuldigt und ist gegangen. Ein paar haben sich nicht mal die Mühe mit einer Entschuldigung gemacht. Einige haben sogar ihr Essen stehen gelassen.«
»Unser Ruf eilt uns voraus«, meinte Rose.Brett schniefte laut. »Natürlich sagt niemand was. Wir sind schließlich Labyrinthleute und Freunde des Todtsteltzers. Aber behandelt man uns wie Helden? Vergiss es! Man hat uns etwa so gern wie eine Reifenspur auf einem Hotelhandtuch. Weißt du was, Rose? Ich denke, du hast Recht. Zum Teufel damit, ob sich Lewis womöglich aufregt! Pack dir das nächste Crewmitglied, das du siehst, und schüttel ein paar Informationen aus ihm heraus!«
Also blieben sie stehen und warteten darauf, dass der erstbeste Pechvogel des Weges kam, und Rose packte ihn und knallte ihn an die nächste Wand. Brett, erklärte, welche Informationen sie beide wünschten, und der Matrose drückte größten Eifer aus, ihnen dabei behilflich zu sein, falls Rose nur die Dolchspitze ein wenig von seinem Augapfel zurücknahm.
»Probiert es in der dritten Untermesse auf
Deck dreiundvierzig. Da läuft immer irgendwas.«
Rose stellte ihn wieder auf die Beine und steckte den Dolch ein.
Der Matrose schob sich an der Wand entlang, brachte ein wenig
Distanz zwischen sich und die beiden und musterte Brett
finster.
»Ich wusste, dass wir Euch nicht trauen können! Abschaum findet
immer seinesgleichen.«
»Wir sind kein Abschaum!«, entgegnete Brett. »Wir haben das
Labyrinth des Wahnsinns durchschritten, erinnert Ihr
Euch?«
»Das stimmt. Ihr seid Monster. Wir hätten Euch im Laderaum bei all
den Ausgeflippten von Shandrakor einschließen sollen!«
Rose zückte erneut das Messer, aber Brett hielt sie auf. Er hatte
die Nase voll davon, Leichen zu verstecken. Er bedachte den
Crewmann mit einem hässlichen Lächeln und legte alles, was er an
Esperzwang draufhatte, in seine Stimme. »Ihr da! Ihr vergesst
dieses Gespräch. Dann scheißt Ihr Euch in die Hose. Dann lauft Ihr
weg.«
Der Crewmann tat all dies wie geheißen und erheiterte Brett damit
sehr. »Ich hasse dieses Schiff wirklich«, verkündete Brett und
scherte sich nicht darum, ob ihn irgendjemand hörte. »Ich könnte es
ja verkraften, wenn ich nur das Missfallen von Lewis und Jesamine
fände, aber alle hier scheinen uns bestenfalls als Helden zweiter
Klasse zu betrachten.«
Rose sprach die Worte Helden zweiter
Klasse im Chor mit ihm aus, und Brett musterte sie
nachdenklich. »Wir tun das in jüngster Zeit immer häufiger. Führen
die Gedanken des jeweils anderen zu Ende, kommen auf die gleichen
Ideen, drücken uns in der gleichen Körpersprache aus. Mir fällt so
was auf. Wir ähneln einander zunehmend, und es gefällt mir nicht.
Das Imperium bietet nur einem Brett Ohnesorg Platz.«
»Ich bin geil«, erklärte Rose erbarmungslos. »Suche mir jemanden,
den ich umbringen kann. Sex mit dir ist ja ganz nett, befriedigt
aber nicht so gut wie das Echte.«
»Warum ich?«, wandte sich Brett herzzereißend an den Himmel.
»Versuche dich zu beherrschen, Rose. Bitte, ja? Schon bald stehen
wir Finn und seinen ganzen Heerscharen gegenüber, und dann stehst
du hüfttief in allem Gemetzel, das du nur verkraften
kannst.«
»Ja«, sagte Rose. »Ich freue mich darauf. Aber ich bin besorgt,
dass ich wieder mit dem Durandal persönlich konfrontiert werden
könnte. Er macht mir Angst.«
Sie sagte das in normalem, beiläufigem Ton, aber man konnte nicht
überhören, dass sie es ehrlich meinte. Brett war richtig
erschrocken. »Ich wusste gar nicht, dass du dich vor irgendwas
fürchtest!«
»Finn ist ein Sonderfall«, sagte Rose, und Brett musste ihr
beipflichten. Beim bloßen Gedanken, Finn wiederzusehen, klopfte ihm
das Herz heftig.
»Ich habe nachgedacht«, gab Rose bekannt, und Brett zuckte
zusammen. Es war immer gefährlich, wenn Rose eigene Ideen
ausbrütete. Sie betrachtete Brett nachdenklich, und er spürte, wie
ihm die ersten Schweißperlen auf die Stirn traten.
»Oh ja?«, fragte er in beinahe normalem Tonfall. »Ich sehe meine
Vergangenheit heute in anderem Licht, Brett. Weil wir miteinander
verbunden sind, beeinflusst dein Bewusstsein meines ebenso wie
umgekehrt. Manchmal ... denke ich glatt an etwas anderes, als zu
töten. Es wäre zwar falsch zu sagen, ich würde ein Gewissen
ausprägen; ich denke nicht, dass man so etwas in dir oder mir
findet. Aber ich bin heute fähig, Leute anders zu betrachten. Als
Menschen, weniger als Opfer. Das ... beunruhigt mich.«
»Empfindest du den Gedanken zu töten denn jetzt anders?«, fragte
Brett hoffnungsvoll.
Rose dachte darüber nach. »Ich denke ... es könnte bedeuten, dass
ich noch mehr Spaß daran habe.«
»Ich wechsle das Thema«, erklärte Brett lautstark und sehr
entschlossen. »Wir müssen eine Möglichkeit finden, an gutes Geld zu
kommen, ehe es richtig losgeht. Nebelwelt hat sich als totaler
Reinfall erwiesen, und Virimonde hat noch nie Besseres versprochen.
Wir könnten unsere Stories nach dem Krieg an die Medien verkaufen,
aber das setzt voraus, dass es ein Nachher gibt. Außerdem sind die
meisten unserer Stories nicht für die Massenmedien geeignet. Wie
dem auch sei, ich denke, ich habe meinen Beitrag zu dieser
Rebellion schon geleistet. Für mich ist Schluss damit, zu kämpfen
und mich in Gefahr zu bringen. Mir ist egal, ob unsere
Gedankenverbindung mich zu einem besseren Kämpfer gemacht hat; so
was entspricht einfach nicht meinem Wesen. Ich würde mir ja ein
Schiff schnappen und desertieren, bestünde nicht die wunderbare
Möglichkeit, kräftig Beute zu machen, wenn wir Parade der Endlosen
endlich eingenommen haben. Ich muss allerdings vorher noch etwas zu
tun kriegen, oder ich werde vor lauter Langeweile verrückt. Es muss
etwas sein, was meinen Talenten Ehre macht. Also probieren wir es
mal in der Richtung, die uns dieser freundliche und
entgegenkommende Matrose gewiesen hat, ehe er losziehen musste, um
die Hose zu wechseln. Irgendwo muss einfach ein freundschaftliches
Kartenspiel laufen, an dem ich mitmachen kann. Man kann immer gutes
Geld verdienen, wenn man auf Leute stößt, die Poker für ein Spiel
unter Freunden halten.«
»Ich möchte nach wie vor jemanden umbringen.«
»Okay, ich werde jemanden beschuldigen, er hätte gemogelt! Sobald
ich eine ordentliche Summe eingestrichen habe.«
Sie stiegen auf Deck dreiundvierzig hinab. Es war ein weiter Weg.
Bis ihn die Umstände wieder mit der Nase daraufstießen, vergaß
Brett gern, dass imperiale Sternenkreuzer das Ausmaß und die
Komplexität fliegender Städte aufwiesen. Normalerweise war dies
zwischen Kampfeinsätzen eine sehr gut geführte, sehr ruhige und
friedliche Stadt, aber Brett konnte nicht die frischen Graffiti an
den Stahlwänden übersehen, an denen er unterwegs vorbeikam.
Die Kirche ist die einzig wahre Autorität. Der
wahre Owen sieht euch. Tod den Ketzern! Reine Menschheit, Reine
Treue. Lang lebe Imperator Finn! Und: Die
Stimmen in meinem Kopf werden lauter.
»Einige dieser Standpunkte machen mir richtig Kummer«, sagte Brett.
»Besonders dieser letzte.« Er blickte Rose an. »Du begreifst die
Bedeutung nicht, stimmt's? Diese Graffiti verraten, dass nicht die
ganze Besatzung einer Meinung ist. Eigentlich hätten sie sich alle
gebessert haben sollen, nachdem ihnen Owen erschienen war, aber das
hier weist nachdrücklich darauf hin, dass man hier an Bord immer
noch Fanatiker der Reinen Menschheit und der Militanten Kirche
antrifft, die weiterhin loyal zu Finn stehen. Die richtig harten
Fälle. Was bedeutet ... na ja, ich weiß nicht. Vielleicht Sabotage?
Messer im Dunkeln? Streit unter den Crewleuten, wenn es zum Kampf
kommt? Das ist das Letzte, was wir gebrauchen können, sobald wir
Finns Verteidigungslinien erreichen.«
»Sollen wir es melden?«, fragte Rose. Sie bemühte sich ernstlich,
interessiert zu klingen, um Brett eine Freude zu machen, aber im
Grunde war es ihr gleich.
»Noch nicht.« Brett runzelte die Stirn und überlegte, welche
Möglichkeiten bestanden. »Wir müssen erst mehr erfahren. Und
vielleicht... Ich wittere eine Gelegenheit! Gehen wir
weiter.«
Am Zugang zu Deck dreiundvierzig wartete jemand auf sie. Es war ein
einzelner Crewmann in der Uniform eines Marineinfanteristen, groß,
auf geschmeidige Art muskulös und mit einem Walrossschnurrbart, der
gar nicht zu seinen ansonsten wölfischen Zügen passte. Der Mann
lächelte und nickte den beiden lässig zu.
»Brett Ohnesorg, Rose Konstantin. Wir alle freuen uns schon darauf,
Euch kennen zu lernen.«
»Wirklich?«, fragte Brett und hielt sich bereit, jederzeit
auszureißen.
»Oh ja! Ich bin Leslie Springfeld, Marineinfanterist zweiter Klasse
und Bastard Ohnesorgs in schlechtem Ansehen.«
»Das sind die Besten«, sagte Brett mechanisch, und Leslie
grinste.
»Ihr solltet Euch darüber freuen, dass ich da bin. Hier ist
feindliches Gebiet. Ihr wärt gar nicht so weit gekommen, hätte ich
nicht für Euch gebürgt.«
»Das war sehr nett von Euch«, meinte Brett. »Was wird es mich
kosten?«
»Vielleicht später mal einen kleinen Anteil. Folgt mir jetzt; Leute
warten schon darauf, mit Euch reden zu können.«
»Was für Leute sind das?«, fragte Brett.
»Der große und wachsende Teil der Besatzung, der Imperator Finn und
den Idealen der Reinen Menschheit und der Militanten Kirche die
Treue hält. Die Illusion des falschen Owen konnte uns nicht einen
Augenblick lang täuschen. Wir haben die ShubTricks gleich erkannt,
als wir sie sahen. Der wahre Owen hätte niemals unsere Ideale
zurückgewiesen. Er war immer ein Feind der Fremdwesen und der KIs
von Shub. Jetzt sollten wir uns aber wirklich beeilen! Ihr seid
eigentlich nicht wegen eines Getränks und eines Kartenspiels
heruntergestiegen, Brett, und Ihr wisst es. Das hättet Ihr überall
finden können, wäre das wirklich Euer Wunsch gewesen. Nein, ob
bewusst oder unbewusst, Ihr habt uns gesucht, denn Ihr wisst,
welche Seite den Sieg davontragen wird. Preiß' Haufen von
Verlierern und Monstern hat keine Chance gegen richtig motivierte
imperiale Armeen.«
»Vielleicht«, sagte Brett. »Was genau verkauft Ihr hier,
Leslie?«
»Eine Chance, erneut Legitimität zu erreichen. Dorthin
zurückzukehren, wohin Ihr gehört. Ich kann Euch in die Sache der
Loyalisten einführen, Euch sogar in Kontakt zum Imperator
persönlich bringen. Ja, ich dachte mir schon, dass Euch das
interessieren würde. Kommt, Brett; Ihr gehört nicht zu dem Verräter
Todtsteltzer und dieser Schlampe. Sie werden verlieren,
katastrophal verlieren, und Ihr wisst es. Vor allem deshalb, weil
die loyalen Besatzungsmitglieder das Kommando über sämtliche
Sternenkreuzer der Flotte an sich reißen werden, lange bevor wir
auch nur in die Nähe von Logres kommen. Wir haben nicht vor, für
Ketzer zu kämpfen und zu sterben. Und vergesst nicht: eine verdammt
große Belohnung erwartet jeden, der dem Imperator die Köpfe von
Todtsteltzer und Blume überbringt. Fünfzehn Millionen Kredits das
Stück.«
»Was möchtet Ihr Typen von mir?«, wollte Brett wissen.
»Nicht dass ich mich zu irgendwas verpflichten würde. Ich ... höre
nur zu.«
Leslie zuckte die Achseln. »Zunächst Informationen. Vor allem über
den Todtsteltzer und die Blume. Wann sie am schwächsten und am
unaufmerksamsten sind.«
»Was ist mit Johann Schwejksam?«, mischte sich Rose auf einmal ein,
und beide Männer zuckten leicht zusammen. »Er ist eine
Legende.«
»Ach was, ist er das?«, fragte Leslie und kräuselte die Lippen. »Er
ist ein alter Handelsmann, der sich Illusionen über seine Bedeutung
macht. Den Weihnachtsmann bei der Krönung zu spielen, das reichte
ja für Samuel Sparren nicht, oh nein, er muss sich einfach als
Johann der verdammte Schwejksam ausgeben! Ihr werdet bemerkt haben,
dass er es sorgsam vermieden hat, auf Nebelwelt oder Virimonde an
Land zu gehen, wo man den alten Schwejksam kannte und einen
Hochstapler hätte demaskieren können. Nein, der ursprüngliche
Johann Schwejksam war ein guter Soldat und stand in
unerschütterlicher Treue zum Thron.«
»Fünfzehn Millionen Kredits das Stück«, sagte Brett. »Ich muss
schon sagen ... ich fühle mich versucht! Was denkst du,
Rose?«
»Du triffst die Entscheidung für uns beide, Brett, wie du es immer
machst. Ich habe mich nie dafür interessiert, auf wessen Seite ich
stand, solange ich nur Gelegenheit erhalte, einen ganzen Haufen
Leute umzubringen.«
»Vorhersagbar«, stellte Brett fest, »aber trotzdem
beunruhigend.«
»Außerdem«, fügte Rose nachdenklich hinzu, »wollte ich schon immer
wissen, ob ich es mit dem Todtsteltzer aufnehmen kann.«
»Schließt Euch uns an«, sagte Leslie. »Bald kommt es an Bord
sämtlicher Sternenkreuzer dieser Flotte zur Meuterei. Loyale
Crewleute werden Stellung beziehen, um jeden Offizier zu erledigen,
der nicht auf unserer Seite steht; dann besetzen wir die
entsprechenden Posten mit unseren Leuten. Wir übernehmen so die
Flotte und töten alle illoyalen Elemente.«
»Einfach so«, sagte Brett und bemühte sich nicht mal, die Zweifel
aus seinem Tonfall herauszuhalten.
»Nein. Wir wissen, dass es ein harter und grausamer Kampf wird.
Aber wir sind mehr Leute, als Ihr denkt, und wir haben Gott und den
Imperator auf unserer Seite.«
»Rose und ich müssen kurz darüber sprechen«, sagte Brett, und
Leslie zog sich höflich zurück, damit Brett und Rose unter sich
waren. Brett machte ein finsteres Gesicht. »Ich dachte mir gleich,
dass die Flotte viel zu leicht vor Owen kapituliert hat. Falls man
wirklich so viele Fanatiker antrifft, wie dieser Bursche behauptet,
könnten sie ihr Programm glatt durchziehen! Der Todtsteltzer ist
ein mörderischer Kämpfer, aber nicht mal er würde allein mit der
ganzen Flotte fertig. Und diese bunt zusammengewürfelte Ansammlung
Schiffe von Nebelwelt und Virimonde hätte auch keine Chance. Die
Rebellion wäre vorüber, ehe sie richtig begonnen hätte ... und auf
einmal habe ich keinen Schimmer, was jetzt zu tun ist. Deswegen ist
es mir zuwider, auf einem Raumschiff zu sein! Man kann nicht
flüchten! Warum mussten sie mir die Chance geben, mich für eine
Seite zu entscheiden? Finn ist ein Mistkerl und ein Monster, aber
ich will verdammt sein, wenn ich auf der Seite des Verlierers
stehen möchte ... Würde er uns wirklich wieder aufnehmen? Möglich;
er hat sich nie für etwas anderes interessiert, als zu siegen. Oh
Gott, ich habe Bauchschmerzen! Das Problem hatte ich nie, solange
ich zu Lewis gehörte. Ich denke, ein paar seiner moralischen
Gewissheiten haben auf mich abgefärbt.«
»Können wir uns darauf verlassen, dass Finn anschließend sein Wort
hält?«, fragte Rose und drang damit wie immer gleich zum Kern des
Problems vor. »Können wir ihm trauen, was die Belohnung und unsere
Sicherheit angeht?«
»Wahrscheinlich nicht. Es sei denn ... wir können aus einer
Position der Stärke verhandeln. Und es sei denn, wir bleiben
jederzeit außerhalb seiner Reichweite und benutzen dann die
Belohung, um auf den Grenzplaneten unterzutauchen ...«
»Ist das dein Wunsch?«
»Na ja, nicht direkt mein Wunsch. Finn ist
ein übles Stück Dreck und außerdem noch ein komischer Typ, aber er
könnte diesen Krieg gewinnen. Und ich habe nicht vor, ruhmreich für
eine verlorene Sache zu sterben, egal wer mein Ahnherr war. Aber
andererseits ... ich mag Lewis. Ich bewundere ihn sogar, vermute
ich. Er ist ein echter Held, ein wahrhaftiger Held, wie es meine
Ahnen Jakob Ohnesorg und Ruby Reise waren. Es scheint einfach ...
das Richtige zu sein, wenn ich an des
Todtsteltzers Seite stehe. Wenn er mich nur nicht ständig in
gefährliche Situationen zerren würde!«
»Aber das tun Helden nun mal«, sagte Rose.
»Ich weiß! Ich weiß. Ich bewundere Lewis, wirklich, aber ... Ich
kann mich jetzt nicht entscheiden. Folge mir, Rose.«
»Tue ich das nicht immer?«
Sie gingen wieder zu Leslie Springfeld hinüber, der höflich eine
Braue hochzog. Brett nickte ruckhaft. »Geht voraus. Ich verspreche
nichts, denkt daran, aber ich höre erst mal zu.«
»Sobald Ihr wisst, wer und was wir sind, können wir Euch aber nicht
einfach wieder davonspazieren lassen«, gab Leslie zu
bedenken.
»Ich weiß, wie man dieses Spiel spielt«, sagte Brett. »Geht voraus.
Ich möchte alles erfahren.«
Und er brauchte Leslie Springfeld nur mit dem Hauch seiner vom
Labyrinth gestärkten Erzwingungskraft anzustoßen.
Sie gelangten schließlich in einen unbenutzten Waffenhangar, wo
eine große Menge Loyalisten auf Brett wartete. Er versuchte
unauffällig, sie zu zählen, aber es waren einfach zu viele. Und
jeder Einzelne von ihnen musterte ihn kalt, als er eintrat. Er
schenkte ihnen sein professionellstes, um Vertrauen heischendes
Lächeln und gestattete es Leslie, ihn und Rose zu den Plätzen für
die Ehrengäste zu führen. Jemand reichte Brett ein Glas mit
erstaunlich gutem Wein, und jemand anderes hielt ihm eine Zigarre
hin, die Brett annahm, weil er immer alles annahm, was kostenlos
angeboten wurde. Er setzte sich, und Rose baute sich neben ihm auf,
die Hände auf dem Waffengürtel. Jeder hier begegnete ihr sehr
höflich. Mehrere Personen lösten sich darin ab, Brett loyalistische
Propaganda und die härteren Glaubensvorstellungen der Reinen
Menschheit und der Militanten Kirche zu präsentieren, und er
lächelte und nickte an all den richtigen Stellen. Man erläuterte
ihm in allgemeinen Umrissen die geplante Meuterei, verschwieg
jedoch die Einzelheiten. Die würde er später erfahren, sobald er
sich erst mal ihrer Sache verpflichtet hatte. Brett trank den Wein
und rauchte die Zigarre und hörte sich alles gut an. Er hatte
Bauchschmerzen, zeigte es aber mit keiner Miene. Endlich gingen den
Loyalisten die Worte aus, und Brett blickte sich unter einer Menge
neugieriger Gesichter um. Rose bot ihm tröstende Nähe, aber Brett
gefiel das Kräfteverhältnis im Grunde nicht. Und als man ihn dann
höflich, aber sehr gezielt fragte, ob er dabei war oder nicht,
nickte er entschieden und sagte: Ich bin
dabei!
Ein erleichtertes Murmeln lief durch die Menge, und sie entspannte
sich etwas. Etliche Personen wollten Brett die Hand schütteln, und
er nahm es hin. Niemand wollte Rose die Hand geben. Leslie trat vor
und schenkte Brett ein viel sagendes Lächeln.
»Wir freuen uns natürlich, Euch und Rose an Bord zu haben, aber ist
Euch auch klar, dass wir Eure Treue zu unserer Sache auf die Probe
stellen müssen?«
»Ich hatte schon erwartet, dass das vielleicht auf mich zukommt«,
sagte Brett. »Was genau schwebt Euch vor?«
Die Menge teilte sich, als mehrere Marineinfanteristen einen
gefesselten und geknebelten Mann heranführten. Sie drückten ihn vor
Brett auf die Knie, und er blickte ihn flehend an.
»Dieser Idiot glaubte, er könnte uns ausspionieren und dem falschen
Schwejksam Meldung machen«, sagte Leslie. »Tötet ihn!«
Und Brett wusste, dass jedes Zögern sein eigenes Todesurteil
gewesen wäre. »Natürlich«, sagte er. »Rose, tu mir den Gefallen,
wenn es dir recht ist.«
Rose lächelte glücklich, und alle in ihrer Nähe schreckten zurück.
Sie trat vor, packte den Kopf des Gefangenen mit beiden Händen und
riss ihn heftig vom Rumpf. Die Leiche kippte rückwärts und sprühte
alles mit Blut voll. Die Leute in der Umgebung wichen zurück und
stießen Schreckensschreie aus. Noch mehr Schreckensschreie
ertönten, als Rose den abgerissenen Kopf erst küsste und dann
lässig wegwarf. Sie beugte sich über die kopflose Leiche, stieß die
Hand durch den Rücken, zog das noch schlagende Herz heraus und
machte sich daran, es zu verspeisen. Mehrere Personen erbrachen
sich geräuschvoll, und noch viel mehr erweckten ganz den Anschein,
sie würden es am liebsten auch tun.
»Sehr schön«, sagte Brett mit beinahe normaler Stimme. »Aber
vergiss nicht, dir heute Abend die Zähne besonders energisch zu
putzen. Können wir sonst noch etwas für Euch tun,
Leslie?«
»Nein ... vorläufig nicht«, sagte Leslie, der vielleicht doch nicht
so stark war, wie er gern gewesen wäre. »Wir haben einen sicheren
Bordfunkkanal eingerichtet, sodass Ihr jederzeit offen mit uns
reden könnt, ohne dass es sich auf den Instrumenten des
Funkoffiziers zeigt. Wir können notfalls auch die Verbindung zu
anderen Schiffen herstellen. Aber zunächst haben wir jemand
Besonderen, der Euch in unseren Reihen begrüßen möchte.«
Ein Wandmonitor leuchtete auf, und Bretts Herz führte einen
schmerzhaften Sprung in der Brust auf, als das klassisch schöne
Gesicht des Imperators Finn Durandal auftauchte und ein warmes
Lächeln zeigte.
»Ah, mein lieber Brett!«, sagte der Imperator. »Schön zu sehen,
dass Ihr nach so vielen Abenteuern sicher und wohlauf seid. Kommt
nach Hause, mein lieber Junge, und alles wird vergeben sein. Wir
sind dann wieder zusammen wie in den alten Zeiten. Wäre das nicht
schön? Ihr wisst, dass wir zusammengehören. Wir sind vom selben
Schlag und betrachten die Welt auf die gleiche Weise. Warum habt
Ihr mich im Stich gelassen, Brett?«
»Weil ... ich glaubte, bessere Gelegenheiten zu sehen«, sagte
Brett.
»Ah! Das hätte ich mir denken sollen. Kehrt heim, und es wird Euch
nie wieder an Geld fehlen. Ich werde Euch nichts versagen! Und ...
vergesst möglichst nicht, wie leicht es mir fiel, Euch zu finden
und diese kleine Plauderei zu arrangieren. Meine Leute sind
überall, loyal bis in den Tod und darüber hinaus. Sagt, dass Ihr
wieder mein sein werdet, lieber Brett!«
»Warum nicht?«, sagte Brett. »Nach allem, was ich in Lewis'
Gesellschaft durchgemacht habe, nach allem, was ich für ihn getan
habe, bin ich noch immer keinen Pfennig reicher als
zuvor.«
»Bin ich auch willkommen?«, wollte Rose wissen.
»Aber selbstverständlich, liebe Rose!«, antwortete Finn. »Ich habe
Euren herrlichen Wahnsinn am meisten vermisst.«
»Erhalte ich Gelegenheit, jede Menge Leute umzubringen?«
»Aber wirklich jede Menge«, bestätigte Finn.
»Schön, wieder da zu sein«, sagte Rose.
Admiral Johann Schwejksam saß kerzengerade auf seinem Kommandostuhl auf der Brücke der Verwüstung. Es war ein schönes Gefühl, wieder Soldat zu sein. Wieder mitzumachen, aktiv zuzupacken, statt nur unter dem Namen Samuel Sparren aus dem Schatten heraus an den Strippen zu ziehen. In seiner Rolle als geheimer Beschützer der Menschheit hatte er sich nie ganz wohl gefühlt. Von jeher freute es ihn, wenn Dinge offen zutage traten. Er verstand sich zwar auf Feinheiten, aber sie fielen ihm nicht gerade von Natur aus zu. Und er genoss den offenen Respekt, den ihm die Besatzung der Verwüstung entgegenbrachte. Er war vielleicht keine Legendengestalt vom gleichen Zuschnitt wie der selige Owen, aber dafür betrachteten ihn die Menschen an Bord als einen der ihren: als eine soldatische Legende. Darum war es ihnen auch lieber, dass er sie kommandierte und nicht der Exchampion mit dem legendären Namen.
Schwejksam wandte sich an den Funkoffizier. »Überprüft die Aufstellung der Flotte. Achtet darauf, dass sämtliche Schiffe von Nebelwelt und Virimonde mithalten und ihre Positionen halten.«
»›Ja, Admiral.«Schwejksam brauchte eigentlich nicht danach zu fragen. Er wusste es immer gleich, wenn Schiffe seiner Flotte vom Kurs abwichen. Die beiden Aufenthalte im Labyrinth des Wahnsinns hatten ihn verändert, größer gemacht, wenn auch nicht auf so protzige Art wie Owen und die anderen. Die Aufstellung seiner Flotte war ihm so vertraut wie der eigene Körper. Er wusste auch, dass man unter den Besatzungen unzuverlässige Elemente antraf. Wusste es schon, ehe sich die Finntreuen Graffiti auf den unteren Decks ausbreiteten. Er hatte Sicherheitsleute beauftragt, die Sache zu untersuchen, aber er bezweifelte, dass dabei etwas herauskam. Wären die Loyalisten ein echtes Problem, wusste er es inzwischen. Schwejksam wusste alle möglichen Dinge, außer wie er sich als die Legendengestalt erweisen sollte, die alle in ihm sehen wollten. Er war Soldat, und für mehr hatte er sich noch nie interessiert. Allerdings war ihm schon aufgefallen, dass einige aus seiner Mannschaft ihn inzwischen verstohlen musterten, bewegt von der Hoffnung auf Wundertaten, und dass sie sogar seine unauffälligsten Bemerkungen als Zeichen oder Prophezeiungen deuteten. Um solchem Unfug aus dem Weg zu gehen, hatte er vor über hundert Jahren seinen Tod vorgetäuscht.
Kapitän Preiß wollte sich an seiner Seite herumtreiben, aber Schwejksam hielt ihn mit anderen Pflichten beschäftigt. Zum Teil, weil der Admiral jemanden für all die Routinearbeiten brauchte, mit denen er sich selbst nicht belasten wollte. Zum Beispiel die Entfernung der loyalistischen Graffiti von den Wänden da unten - aber vor allem deshalb, weil Kapitän Preiß Schwejksam auf die Nerven ging. Er war einfach zu liebenswürdig und zuvorkommend, immer viel zu bereit und zu diensteifrig. Schwejksam kannte solche Leute sattsam. Zu Löwensteins Zeiten gab es keinen Mangel an ihnen. Politische Soldaten, die sich vor jedem Wind beugten und mit jedem gemeinsame Sache machten, der am ehesten nach dem künftigen Sieger aussah. Solche Leute benutzte man, aber man traute ihnen niemals.
Außerdem gab es von jeher an Schwejksams Seite nur Platz für eine Person. Seit er seinen Platz auf der Brücke der Verwüstung eingenommen hatte, spürte er die Präsenz von Investigator Frost an seiner Seite, wo sie auch früher immer gestanden hatte. Schwejksam glaubte nicht an Geister, aber zuzeiten war das Gefühl von Frosts Gegenwart so real, so überwältigend, dass er glaubte, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um sie tatsächlich anzufassen. Es lag über zweihundert Jahre zurück, dass Frost an Löwensteins grauenhaftem Hof in seinen Armen gestorben war, niedergestreckt von Kit Sommer-Eiland, dem berüchtigten Kid Death. Sie war in Schwejksams Armen verblutet, und er hatte nichts, einfach nichts dagegen tun können.
Ich wollte sterben, Kapitän. Sicherlich war Euch das klar? Ihre ruhige trockene Stimme war vollkommen klar zu hören.
Still, Investigator! Ich habe schon genug Probleme, auch ohne dass die Toten auf ein Plauderstündchen hereinschneien.
Schmeichelt Euch nicht selbst, Kapitän. Ich bin hier, weil Ihr mich braucht, wie immer. Ihr konntet nie der Herausforderung widerstehen, auf die geringeren Chancen zu setzen, was? Für mich ist es ein Wunder, dass Ihr überhaupt so weit gekommen seid. Habt Ihr nicht schon genug Schlachten ausgetragen, alter Mann?
Ich gehöre hierher, dachte Schwejksam stur. Ich war immer dann am besten, wenn ich ein Sternenschiff kommandiert habe.
Immer noch auf der Suche
nach einem guten Tod, Kapitän ? Für eine Sache, die es wert ist
?
Vielleicht, Investigator. Er blickte sich um, achtete dabei
sorgsam auf ein neutrales Gesicht, aber natürlich war Frost nicht
da. Schwejksam spürte, wie er auf seinem Stuhl ein bisschen
schrumpfte. Keine Legendengestalt, nicht mal ein Held. Nur ein
alter, müder Mann, der Stimmen hörte. Owen,
Ihr habt die ausgerotteten Ashrai zurückgebracht und ihren Planeten
wieder zum Leben erweckt. Ihr habt den Neugeschaffenen und all
ihren Planeten ein neues Dasein geschenkt. Warum habt Ihr nicht die
einzige Frau wiederbelebt, die ich je wirklich geliebt habe? Ich
habe nie daran gedacht, Euch zu bitten, und als es mir dann
einfiel, war es bereits zu spät. Ihr wart schon fort. Jeder hat in
der Rebellion jemanden verloren, das weiß ich. Aber ich habe so
viel hergegeben; hätte ich nicht eine Kleinigkeit für mich haben
können?
Nach Frost hatte es in Schwejksams langem Leben niemanden mehr
gegeben. Nicht weil er einen Schwur oder etwas in dieser Art
geleistet hätte, sondern weil er nie wieder einem anderen Menschen
die gleichen Gefühle entgegenbringen konnte. Nie hatte jemand der
großen, unbeugsamen, prachtvollen Frau geähnelt, die Investigator
Frost gewesen war. Zu ihrer Zeit waren sie beide ein hervorragendes
Paar gewesen, das viele große Dinge vollbrachte und mehr als nur
ein paar schändliche. So war nun mal das Leben unter Löwenstein
XIV. Schwejksam hatte seine Gefühle Frost gegenüber nie
eingestanden. Sie war Investigator und allen derartigen Emotionen
entfremdet. Vermutlich.
Und später war es für ihn so traurig, dass er jung blieb, während
alle Welt rings um ihn alterte. Alle alten Freunde starben, und er
hatte anscheinend nie Gemeinsamkeiten mit den neuen Personen, die
in seiner Umgebung auftraten. Sogar seine Tochter starb. Diana
Vertue, auch als Johana Wahn bekannt. Sie standen einander nie ...
nahe, aber er vermisste sie trotzdem. Er erblickte Geburt und Blüte
eines goldenen Zeitalters und entwickelte Stolz darauf, der
heimliche Hüter der Menschheit zu sein. Stets glaubte er,
vielleicht mal wieder gebraucht zu werden; stets hoffte er, sich
darin zu irren. Und jetzt saß er hier, erneut ein Soldat unterwegs
in die Schlacht, wohl wissend, dass diese neue Rebellion nur eine
Gewissheit kannte: gute Männer und Frauen würden auf beiden Seiten
umkommen.
Zu seiner großen Überraschung hatte man von Logres vermeldet, dass
Diana Vertue wieder unter den Lebenden weilte und äußerst aktiv
war. Endlich aus dem kollektiven Bewusstsein der Überseele
wiedergeboren. Schwejksam wusste nicht recht, was er angesichts
dessen empfand. Er hatte es gleich gespürt, als sie wieder in der
materiellen Welt auftauchte gleich einem Licht, das plötzlich in
der Finsternis anging. Den jüngsten Meldungen zufolge hatte sie
sich Douglas Feldglöck im Slum angeschlossen. Typisch für seine
Tochter: immer im dicksten Getümmel, wo sie auf destruktive Art und
Weise ihr Bestes tat. Er hätte auf telepathischem Weg mit ihr reden
können, aber selbst nach den langen Jahren war ihre Beziehung noch
von unbeholfener Natur. Zu viel Schmerz und Schuldzuweisungen
standen ihr im Weg, zu viele böse Erinnerungen. Und so reichte es
ihm zu wissen, dass sie wieder da war und auf ihre entsetzliche Art
und Weise das Richtige tat. Er gedachte, mit ihr zu reden, sobald
sie Logres dem Griff Finns entrissen hatten. Bis dahin dürften sie
auch genug Gesprächsstoff haben.
Er hätte auch mit ihr reden können, solange sie noch dem
Massenbewusstsein der Überseele angehörte, hatte es aber nie getan.
Es wäre dem Gespräch mit einem Gespenst zu ähnlich
gewesen.
Erinnerungen führten seine Überlegungen in eine neue Richtung. Er
hatte schon mehrfach versucht, mit seinem alten Freund Carrion auf
dem Planeten Unseeli Verbindung aufzunehmen, erhielt aber keinerlei
Antwort auf irgendeinem Kanal. Schwejksam war ziemlich sicher, dass
Carrion ihn hörte, sich aber stur gab. Bei ihrer letzten Begegnung
hatte Carrion seine vollständige Trennung von der Menschheit
verkündet und sich mit seiner neuen Ashraigestalt vollkommen
zufrieden gezeigt. Schwejksam war von dieser Umwandlung nicht
sonderlich überrascht. Carrion hatte schon immer die Seele eines
Ashrai in sich getragen, sogar als er noch ein Mensch namens Sean
gewesen war. Das hatte sie beide auch im Krieg auf unterschiedliche
Seiten geführt. Schwejksam entschied jetzt jedoch, dass sein Bedarf
an einem Gespräch wichtiger war als Carrions Bedürfnis, seine
Eigenständigkeit zu demonstrieren, und so dehnte er seinen
labyrinthverstärkten Geist aus, und seine Gedanken flogen über all
die vielen Lichtjahre hinweg zum Planeten Unseeli.
Zweimal hatte Schwejksam das Labyrinth des Wahnsinns betreten. Er
hätte so groß werden können wie die anderen, hielt es jedoch für
wichtiger, ein Mensch zu bleiben.
Komm schon, Sean, sei nicht so stur und rede
mit mir, oder ich haue dir ordentlich eine runter!
Ein Ashraigesicht, dessen markante Züge an einen altertümlichen
Wasserspeier mit Dämonenfratze erinnerten, erschien plötzlich auf
dem Brückenmonitor und erschreckte alle hier fürchterlich -
besonders den Funkoffizier, der mit Bestimmtheit wusste, dass das
Signal auf keinem seiner Kanäle einging. Mehrere Personen auf der
Brücke erweckten ganz den Anschein, als wären sie am liebsten
weggerannt, um sich zu verstecken, aber sie drehten sich zu
Schwejksam um und wurden durch seine gelassene Haltung beruhigt.
Der Geschützoffizier suchte verstohlen nach einem Ziel außerhalb
des Schiffs, und sie reagierte richtig nervös, als sie feststellte,
dass dort überhaupt nichts zu finden war. Der Ashrai musterte
Schwejksam derweil finster.
»Hallo Johann. Ich wusste einfach, dass du mich irgendwann wieder
belästigen würdest. Deine Gedanken fühlen sich ... anders an, aber
andererseits haben wir beide viele Veränderungen durchgemacht. Ich
bin mit meinen nur viel offener. Was möchtest du von mir,
Johann?«
»Hallo Sean, alter Freund, alter Feind. Existiert ein passender
Begriff für unsere Beziehung? Mit wem sonst könnten wir über all
die Dinge reden, die wir durchgemacht haben? Wer sonst würde es
verstehen?«
»Komm auf den Punkt, alter Mann.«
»Ich führe derzeit eine ganze Flotte nach Logres, Sean, um sie dem
Imperator in den Hals zu rammen. Ich dachte mir, du und dein Volk
würdet vielleicht gern mitmachen.«
»Die Ashrai möchten nichts mit der Menschheit zu tun haben. Sie
haben nicht vergessen, dass du vor all den vielen Jahren den Befehl
zu ihrer Ausrottung erteilt hast.«
»Oh, komm schon! Überleg doch nur, wie gut es sich anfühlen würde,
es dem imperialen Heimatplaneten nach dieser ganzen Zeit
heimzuzahlen.«
»Das hat etwas für sich«, räumte Carrion ein. »Um die Wahrheit zu
sagen, hatte ich schon auf deinen Ruf gewartet. Nach Owens Rückkehr
... ist wieder mal ein Zeitpunkt gekommen, an dem sich alles
ändert. Wir alle schulden ihm so viel.«
»Und wie steht es um einen Gefallen für einen alten
Freund?«
»Ja, Johann«, sagte der Ashrai sanft. »Vielleicht.«
»Das wollte ich hören«, sagte Schwejksam. »Ich schicke ein paar
Schiffe, um euch abzuholen.«
Carrion stieß ein raues Lachen aus, ein düsterer, verstörender
Laut, bei dem alle seine spitzen Zähne sichtbar wurden. »Das ist
nicht nötig. Wir stoßen aus eigener Kraft zu euch. Die Ashrai
brauchen keine Schiffe, um den Weltraum zu durchqueren.«
Schwejksam musste lächeln. »Wie kommt es, dass wir euch jemals
besiegen konnten?«
»Das war einfach, Kapitän. Du hast geschummelt.« Schwejksam
betrachtete das Dämonengesicht nachdenklich. »Habe ich dein Wort,
dass du die Ashrai an der Kandare halten wirst, sobald wir Logres
erreicht haben?« »Natürlich, Johann. Traust du mir nicht?« »Das ist
jetzt aber eine verdammt alberne Frage!« Sie lachten gemeinsam, und
es klang bei beiden ganz ähnlich.
Kapitän Preiß trieb sich auf den unteren Decks der Verwüstung herum. Er interessierte sich zwar durchaus dafür, Crewmitglieder zu fangen, die nicht so begierig gewesen waren wie er, die Seiten zu wechseln, aber im Grunde schlug er nur die Zeit tot, seit der Admiral sehr deutlich gemacht hatte, dass Preiß auf der Brücke nicht willkommen war. Preiß las die neuesten loyalistischen Graffiti an den Stahlwänden und konnte sich ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen. Es war ein bisschen schwer, wieder in die Leier der Militanten Kirche zurückzufallen. Jeder mit auch nur halb so viel Grips wie zum Zeitpunkt seiner Geburt konnte doch sehen, aus welcher Richtung der Wind wehte. Der selige Owen war in seinem ganzen Ruhm zurückgekehrt. Welchen Sinn machte da noch kleinliche Politik? Und Preiß hatte alle Brücken sehr gründlich hinter sich abgebrannt, als er dem früheren Admiral in den Hinterkopf schoss. Die Frau war von Finn aus politischen Gründen ernannt worden und hatte sich als besonders heftig geifernde Irre in seinem Dienst entpuppt, und absolut niemandem war der Abschied von ihr schwergefallen.
Während Admiral Schwejksam den Kommandositz praktisch rund um die Uhr okkupiert hielt, beschäftigte sich Preiß damit, über die Ereignisse auf Logres informiert zu bleiben. Zusammen mit dem Funkoffizier Charlton Vu hatte er eine ausgesprochen abhörsichere Verbindung zwischen der Verwüstung und einer der neuen aufmüpfigen NachrichtenWebsites im Slum hergestellt. Deren redaktionelle Politik schien zu lauten: hau die Story so schnell raus wie nur möglich, und zum Teufel damit, wer sich darüber aufregt. Preiß hatte persönlich mit der Anchorwoman der Nachrichtensite gesprochen, einer charmanten, wenn auch etwas erschreckenden jungen Dame namens Nina Malapert, und im Gegenzug zu Berichten aus erster Hand von der Rückkehr Owens (eine Exklusivstory!, hatte Nina so laut gesagt, dass Preiß zusammenzuckte) versorgte sie ihn laufend mit den neuesten Meldungen über die auf Logres grassierenden Aufstände. Sie hatte ihm sogar eine Direktverbindung zu König Douglas versprochen. Preiß konnte sich ein leises Lächeln nicht verkneifen. Das müsste seine Beziehung zu Schwejksam auf Vordermann bringen! Preiß war ziemlich sicher, dass Finns Sicherheitsleute den Funkkanal nicht hatten knacken können, denn er beruhte auf Fremdwesentech, gespendet von den Vertretern der fremden Völker im Slum.
Preiß hatte gar nicht gewusst, dass man im Slum Vertreter der Fremdwesen fand. Man lernte jeden Tag was Neues.
(Und natürlich konnte er, falls der Krieg sich für die Rebellenflotte wirklich schlecht entwickelte, diese Informationen an die Leute des Imperators weitergeben, zum Beweis, dass er die ganze Zeit als Doppelagent tätig gewesen war. Preiß hielt große Stücke auf vorausschauendes Handeln und darauf, sich immer den Rücken freizuhalten.)
Er spazierte eine Zeit lang auf den unteren Decks herum, aber niemand wollte mit ihm reden, und so war er tatsächlich sehr erleichtert, als gemeldet wurde, dass Lewis Todtsteltzer und Jesamine Blume endlich von Virimonde zurückgekehrt waren. Preiß begab sich im Laufschritt zum angegebenen Dockshangar, um auf jeden Fall der erste Offizier zu sein, der die beiden wieder an Bord begrüßte. Menschen erinnerten sich an so was. Die beiden wirkten körperlich und emotionell eindeutig erschöpft und wollten am liebsten sofort in ihre Quartier zurückkehren und dort zusammenbrechen, aber sie gewährten Preiß höflich ein wenig Zeit.
»Ich habe Nachrichten über König Douglas und den Freiheitskampf in Parade der Endlosen erhalten«, verkündete Kapitän Preiß großspurig und war insgeheim zufrieden, als er sah, wie schnell er ihr Interesse geweckt hatte. »Ich habe eine wirklich abhörsichere Verbindung zu den Rebellenstreitkräften im Slum hergestellt. Dort arbeitet eine junge Dame für eine revolutionäre Website, die Euch sämtliche Einzelheiten nennen kann, falls Ihr möchtet, dass ich es arrangiere ...«
»Zeigt es uns«, sagte der Todtsteltzer mit einem Unterton, bei dem Preiß den ganzen Rest seiner Ansprache vergaß und schnellstens gehorchte. Er stellte die Verbindung auf dem Wandmonitor ein, und nachdem sie sorgfältig durch mehrere Tarnleitungen und Sicherungen gelenkt worden war, erschien Nina Malaperts Gesicht auf dem Bildschirm. Sie sah, dass Lewis und Jesamine ihren Blick erwiderten, jubelte laut vor Freude und hüpfte aufgeregt auf ihrem Stuhl, wobei der hohe rosa Irokesenschnitt wie verrückt hin und her schwankte.
»Der Todtsteltzer und die Diva! Eine WahnsinnsExldusivstory! Oh, auf allen anderen Sites werden die Leute krank vor Neid sein!«
»Falls Ihr die Feierlichkeiten auf ein Minimum begrenzen könntet«, sagte Preiß und achtete darauf, dabei auf sichtbare Weise direkt neben dem Todtsteltzer zu stehen. »Ich denke nicht, dass wir die Abhörsicherheit dieser Verbindung unnötig auf die Probe stellen sollten, indem wir auch nur eine Minute länger reden als unbedingt nötig.«
»Ja«, bekräftigte Lewis. »Erzählt mir, Nina Malapert: Was ist seit meiner erzwungenen Abreise in der Stadt geschehen? Was ist aus Douglas geworden?« »Und aus Anne Barclay?«, warf Jesamine ein. Nina machte ein langes Gesicht. »Ihr habt es noch
nicht erfahren! Es tut mir Leid. Anne Barclay ist tot, erschlagen von einstürzendem Mauerwerk, als Douglas aus seinem Schauprozess flüchtete. Er ist so bestürzt darüber! Die gute Nachricht lautet, dass Douglas sich zum Anführer über die komplette Rebellenaktivität im Slum gemacht hat und absolut jeder zu ihm steht! Er ist so inspirierend! Sämtliche Gauner, Betrüger, Kämpfer und Verbrecher haben sich zu einer gewaltigen Armee zusammengeschlossen, die seinem Kommando untersteht. Heute nennen die Leute Douglas den König der Diebe, was ja so romantisch ist! Möchtet Ihr mit ihm reden? Ich bin sicher, dass ich das ganz schnell freischalten könnte.«
Lewis und Jesamine blickte einander lange an.
»Noch nicht«, sagte Jesamine.
»Ich denke nicht, dass irgendeiner von uns wusste, was er sagen
sollte«, sagte Lewis. »Vorläufig ist es genug, dass wir
Bundesgenossen sind.«
»Ja«, pflichtete ihm Jesamine bei. »Sagt ihm einfach ... wir reden
miteinander, wenn wir uns alle im imperialen Palast auf Logres
begegnen.«
Später saßen Lewis und Jesamine in ihrem Privatquartier eine ganze
Weile lang da und schwiegen. Sie wahrten vorsichtige Distanz
zueinander, getrennt von alten Erinnerungen und alten Verletzungen.
Die Aussicht, tatsächlich wieder mit Douglas zu sprechen, hatte
Gefühle wiedererweckt, die zu untersuchen oder auch nur
anzuerkennen sie zu beschäftigt gewesen waren, und das für viel zu
lange Zeit. Einst waren sie vier gute Freunde gewesen: Douglas und
Lewis, Jesamine und Anne, verbunden durch Liebe und Treue,
entschlossen, die Welt zum Besseren zu verändern. Stattdessen hatte
die Welt sie verändert und ihre Gemeinsamkeit zertrümmert; und
jetzt war eine von ihnen tot und nichts würde mehr so sein wie
früher.
»Ich kann nicht glauben, dass Anne nicht mehr da ist«, sagte
Jesamine schließlich. »Sie war immer die große
Überlebenskünstlerin. Ich dachte, sie würde uns alle
überleben.«
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie sich auf Finn
eingelassen hat«, sagte Lewis. »Sie war die Klügste von uns; falls
irgendjemand Finn hätte durchschauen sollen, dann sie. Warum hat
sie sich gegen uns gewandt? Wir haben alles für sie getan, was wir
konnten ... und sie hat nacheinander jeden von uns verraten.
Inzwischen tauchen sogar Gerüchte auf, sie hätte etwas mit Emma
Stahls Tod zu tun.«
»Vielleicht... war es ja Finn, der auf sie gehört hat«, überlegte
Jesamine. »Und vielleicht haben wir nicht sorgfältig genug
zugehört. Zum Ende wurde in Ansätzen deutlich, dass sie nicht
glücklich war, und das schon längere Zeit nicht mehr. Dass wir sie
vielleicht niemals nur halb so gut verstanden haben, wie wir
glaubten.«
»Anne und ich sind zusammen auf Virimonde groß geworden«, erinnerte
sich Lewis. »Wir haben alles gemeinsam gemacht. Ich dachte, wir
würden Freunde sein bis zu unserem Tod, würden füreinander kämpfen,
füreinander sterben. Und dann ... hat sich etwas verändert.
Vielleicht sind wir erwachsen geworden. Entwickelten uns
auseinander. Ich hatte immer geglaubt, dass ich sie wieder auf
meine Seite würde ziehen können, wenn ich schließlich nach Logres
zurückgekehrt wäre und Finn gestürzt hätte. Dass ich sie wieder zu
Verstand gebracht hätte. Indem ich mich bei ihr für das
entschuldigte, was immer ich falsch gemacht habe, womit immer ich
sie vertrieben habe. Und jetzt wird das nie mehr möglich
sein.«
»Sie war mir die beste Freundin und der beste Manager aller
Zeiten«, sagte Jesamine. »Sie hat jedoch stets ihre eigenen
Entscheidungen getroffen und darauf bestanden, ihren eigenen Weg zu
gehen. Selbst wenn jeder, der sich etwas aus ihr machte, klar sah,
dass es der falsche Weg war. Weißt du, sie ist die erste mir nahe
stehende Person, die ich in diesem Krieg verloren habe. Mir ist...
kalt zumute.«
»Ich habe Mutter und Vater, meine Familie und mein Zuhause
verloren«, sagte Lewis. »Darin liegt das Wesen des Krieges: all das
zu verlieren, woraus man sich am meisten macht.«
»Wir haben immer noch einander«, stellte Jesamine fest und blickte
ihn zum ersten Mal wieder an.
»Ja«, sagte Lewis. Er schenkte ihr ein Lächeln, aber insgeheim
dachte er: Das Glück der Todtsteltzers. Immer
nur Pech.
»Wenn wir zurück sind«, sagte Jesamine zögernd, »wenn wir wieder
auf Logres sind und alles überstanden ist... was tun wir dann,
Lewis? Wie steht es dann mit Douglas, mit uns?«
»Er war immer mein bester Freund«, sagte Lewis.
»Er war mein Verlobter.«
»Aber hast du ihn je wirklich geliebt?«
»Ich wollte ihm nie wehtun«, sagte Jesamine. »Er ist ein guter
Mann, ein feiner Mann. Er hatte Besseres verdient, als wir ihm
angetan haben.«
»Ich hatte immer geglaubt, ich würde mir eher das eigene Herz
herausreißen, als Douglas zu verletzen«, sagte Lewis. »Als sein
Champion hatte ich geschworen, zwischen ihm und jedem Ungemach zu
stehen. Er war mein Freund, stand mir näher als ein Bruder. Und ich
habe ihn verletzt, wie es niemand anderes hätte tun
können.«
»Was man alles aus Liebe tut«, sann Jesamine müde. »Wie kann etwas
so Gutes so viel Leid erzeugen?«
»Ach verdammt!«, beschwerte sich Lewis und streckte sich langsam.
»Wir führen heute ein anderes Leben. Wir haben uns alle seit damals
verändert. Falls wir diesen Krieg wirklich überleben, alle drei ...
könnten wir trotzdem nicht einfach unser altes Leben wieder
aufgreifen, in unsere alten Rollen schlüpfen. Wir würden sie zu
einengend, zu beschränkt finden.«
»Das ist jetzt mal ein erschreckender Gedanke!«, fand Jesamine.
»Nach allem, was wir durchgemacht haben, bin ich nach wie vor ich
selbst, oder nicht? Ich empfinde jedenfalls so. Und doch ... spüre
ich, wie die Veränderungen, die das Labyrinth an mir vornahm,
weiterhin in mir wirksam sind. Wir beide sind jetzt schon viel
mehr, als wir früher waren. An welchem Punkt endet diese
Entwicklung? Endet sie überhaupt jemals? Enden wir letztlich als
neue Schrecken wie Hazel? Ich möchte nicht zum Monster werden,
Lewis! Ich möchte nicht aufhören, ich selbst zu sein!«
Ihre Stimme wurde lauter, klang rau und verängstigt. Lewis war
sofort an ihrer Seite und nahm sie in die Arme. »Ruhig, ruhig,
Liebes. Wir werden nicht wie Hazel enden. Sie wurde allein gelassen
und war da schon halb verrückt. Wir haben einander.«
»Aber falls wir einander verlieren, Lewis? Falls einer von uns in
diesem Krieg umkommt und der andere halb wahnsinnig zurückbleibt?
Was dann?«
»Du bist viel zu optimistisch«, entgegnete Lewis trocken. »Die
Chancen stehen eher dafür, dass wir alle in dieser Rebellion
umkommen und uns nie mehr solche Sorgen machen müssen.«
»Oh, ho ho ho!«, sagte Jesamine. »TodtsteltzerHumor.«
Gar nicht so weit entfernt, wenn man in Begriffen der Hyperraumfahrt dachte, näherte sich die Flotte des Imperators Finn der geschätzten Position der Rebellenflotte. Die imperiale Flotte war riesengroß, bestand aus sämtlichen Kampfschiffen, die Finn entbehren konnte, bemannt mit erfahrenen Flottenoffizieren, denen der harte Kern von Fanatikern der Reinen Menschheit und der Militanten Kirche zur Seite stand. Finn hätte gern mehr seiner eigenen Leute mit Kommandopositionen bedacht, aber diese Schlacht war zu wichtig, um sie zwar loyalen, aber beschränkten Eiferern zu überlassen, wie er sie in die Befehlsstruktur der Flotte eingeschleust hatte. Die Befehle der imperialen Flotte waren einfacher Natur: Haltet die Rebellenflotte ungeachtet aller Verluste auf, ehe sie auch nur in die Nähe von Logres gelangt, und zerschmettert die Rebellion, ehe sie richtig in Gang kommt. Keine Kapitulation, keine Gefangenen, keine Gnade. Nur tote Schiffe, die brennend durch die lange Nacht trudelten, und ein Sieg von solch entsetzlichen Dimensionen, dass er den Willen aller brach, die auch nur überlegten, sich vielleicht gegen Imperator Finn zu erheben.
Die Rebellenflotte war leicht genug zu orten gewesen. Finn wusste, dass Lewis nach Virimonde zurückkehren würde; der Todtsteltzer war schon immer von der sentimentalen Sorte gewesen. Und so lauerte die imperiale Flotte einfach im Hyperraum, versteckt hinter den modernsten Tarnschirmen, bis die Signale der Materiewandler über Virimonde verstummten. Jetzt näherte sich die riesige Ansammlung imperialer Sternenkreuzer ihren ahnungslosen Opfern und bereitete sich dabei zur Schlacht vor. Die Kapitäne waren entschlossen, die Crews gut trainiert und motiviert. Finn hatte die größte Konzentration von Feuerkraft seit Löwensteins Zeiten gebildet.
Sämtliche Schiffe wahrten Funkstille. Angeblich, um das Überraschungsmoment nicht zu gefährden und Rebellenspione daran zu hindern, dass sie Informationen weitergaben, vor allem jedoch, damit die imperialen Besatzungen keine Einzelheiten von Owen Todtsteltzers wundersamer Rückkehr erfuhren. Natürlich kursierten Gerüchte, denn niemand konnte Gerüchte aufhalten, aber Finn ging keinerlei Risiko ein. Die Kapitäne durften auf einem stark abgeschirmten Kanal miteinander reden, aber damit hatte es sich. Das reichte auch.
Die Erbe, die sich immer noch von der Begegnung mit dem Schrecken bei Usher II erholte, gehörte jetzt zu dieser imperialen Flotte. Sowohl Schiff als auch Besatzung brauchten dringend Erholung und Reparatur, aber ... die Pflicht rief. Kapitän Ariadne Vardalos saß müde auf ihrem Kommandostuhl und betrachtete die Aufstellung der Flotte auf dem Bildschirm. Als eines der letzten Schiffe, das sich der Flotte anschloss, mussten sie immer noch aufholen. Vardalos freute sich nicht übermäßig über das, was sie da zu sehen bekam. Es sah entschieden nach Improvisation aus. Andererseits lag es jedoch lange zurück, dass zuletzt jemand eine große Raumschlacht geschlagen hatte. Sie schaltete auf eine Wiedergabe der Rebellenflotte und ihrer Aufstellung um, die auf den neuesten Informationen beruhte, und schüttelte langsam den Kopf.
»Ich kenne die meisten dieser Schiffe«, sagte sie zu ihrer Stellvertreterin Marcella Fortuna. »Ich habe mit einigen ihrer Kapitäne auf der Akademie studiert! Wie konnten so viele gute Leute zu Verrätern werden?«
Fortuna zuckte unbehaglich die Achseln. »Schwer zu sagen, Kapitän. Niemand hält sich jemals selbst für einen Verräter. Wir alle sind die Helden unserer eigenen Geschichten.« Sie dachte eine Zeit lang nach und wog die Lage in ihrem bedächtigen, methodischen Verstand ab. »Muss etwas mit Owens Rückkehr zu tun haben. Falls das ein Trick von Shub war, wie es der Imperator hartnäckig behauptet, dann haben die KIs vielleicht den ganzen Leuten dort eine Gehirnwäsche verpasst.«
Kapitän Vardalos sah finster drein. »Ich kenne diese Leute ... falls ich nur mit ihnen reden könnte, dann würde es mir gelingen, sie zu überzeugen, dessen bin ich mir gewiss. Ich könnte ihnen zeigen, wie sehr sie sich irren. Allerdings ist uns jeder Kontakt verboten.« Sie spürte, wie sie die Hände unwillkürlich zu ohnmächtigen Fäusten ballte, und zwang sich dazu, sie zu entspannen. Ein Kapitän durfte sich der eigenen Crew nicht nervös oder unsicher zeigen. Besonders nicht vor einer großen Schlacht.
»Ob es wohl Sinn hätte, noch mal mit dem
Admiral zu reden?«, fragte Fortuna.
»Nein«, sagte Vardalos zögernd. »Admiral Shapiro gehört zur alten
Schule, die streng nach Buch vorgeht. Er würde die eigene Familie
erschießen, falls er einen entsprechenden Befehl des Imperators
erhielte. Er würde nie einen Befehl anzweifeln, geschweige denn
daran denken, ihn zu brechen.«
»Die Rebellenflotte scheint viel größer, als man uns glauben
machte«, stellte Fortuna fest. »Obwohl es mir fernliegt, auch nur
anzudeuten, unsere geheimdienstlichen Erkenntnisse könnten nicht
perfekt sein.«
»Oh, der Himmel behüte!«, sagte Vardalos. »Und seht Euch nur mal
die ganzen Schiffe von Virimonde und Nebelwelt an. Ich erkenne
nicht mal die Hälfte davon wieder. Gott allein weiß, wozu sie in
der Schlacht fähig sind. Beten wir lieber alle inbrünstig dafür,
dass die Tarnschirme uns vor ihren Augen verstecken, bis wir
angreifen. Denn wir brauchen jeden Vorteil, den wir nur kriegen
können.«
»Wir müssen die Rebellenflotte aufhalten, Kapitän«, sagte Fortuna.
»Und zwar so schnell wie möglich. Das Imperium kann sich keine
anderen Probleme leisten, während der Schrecken noch unterwegs
ist.«
»Das ist mir klar! Warum wissen die das nicht? Ein Bürgerkrieg ist
unter den gegenwärtigen Bedingungen Irrsinn!«
»Unter allen Bedingungen«, murmelte Fortuna mit einem bedeutsamen
Blick.
»Natürlich«, räumte Vardalos ein. Man wusste heutzutage nie, wer
vielleicht zuhörte. Und dabei Notizen machte.
»Da wünscht man sich beinahe, dass Owen zurückkehrte, um sich dem
Schrecken entgegenzustellen«, meinte Fortuna.
»Denkt nicht mal daran«, hielt ihr Vardalos entgegen. »Die Lage ist
auch so schon kompliziert genug.«
»Aber was, wenn ... diese Schlacht beide Flotten vernichtet,
Kapitän?«, fragte Fortuna plötzlich. »Was, wenn kein Sieger
zurückbleibt? Wer schützt dann die Heimatwelt? Vor Fremdwesen,
Rebellen und der Ankunft des Schreckens?«
»Deshalb müssen wir ja den Sieg davontragen«, sagte Vardalos. »Zur
Hölle mit diesen verdammten Rebellen, da sie uns in eine solche
Lage bringen! Die Rebellion muss niedergeschlagen werden. Der
ganzen Menschheit zuliebe.«
Admiral Schwejksam wusste, dass die imperiale Flotte anrückte. Die
Tarnschirme konnten sie nicht vor einem Verstand verbergen, den das
Labyrinth verstärkt hatte. Simple Rechenexempel und ein gewisses
Maß an kreativem Denken vermittelten ihm eine recht gute
Vorstellung davon, wo die andere Flotte steckte und wie sie
zusammengesetzt war. Er gab seine Erkenntnisse an den Rest der
eigenen Flotte weiter und reagierte ein bisschen bestürzt darauf,
wie rasch alle seine Angaben schluckten. Seine Legende geriet
definitiv langsam außer Kontrolle. Er wies den Funkoffizier an, auf
allen Kanälen Freundschafts- und Waffenstillstandsangebote zu
senden, aber niemand antwortete. Nicht mal, als sich Schwejksam
persönlich an den Gegner wandte und versuchte, aus der Macht seiner
Legende Kapital zu schlagen.
»Sie müssen es einfach hören«, sagte er endlich, als er sich geschlagen gab. »Warum glauben sie mir nicht?«
»Ihr verlangt recht viel von ihnen, Admiral«, sagte Kapitän Preiß, der irgendwie einen Grund gefunden hatte, auf die Brücke zurückzukehren. »Könntet Ihr ihnen nicht zeigen, dass Ihr tatsächlich seid, was Ihr vorgebt? Ein Wunder wirken, um ihnen zu beweisen, dass Ihr Euch zu Recht als Schwejksam ausgebt?«
»Ich wirke keine Wunder«, lehnte Schwejksam ab. »Was schlagt Ihr denn vor? Soll ich durch den leeren Weltraum spazieren und dort drüben anklopfen und Zutritt verlangen? Carrion hätte das wahrscheinlich tun können. Und Owen ... aber ich bin nur ich, und ich bin schon zu lange ein Mensch, um die Behaglichkeit dessen aufzugeben. Immerhin, die imperialen Schiffe lauern eindeutig da draußen. Ich spüre sie richtig ... einige meiner alten Fähigkeiten treten allmählich wieder zutage. Ich weiß einfach, dass ich diesen ganzen Wahnsinn aufhalten könnte, wäre ich nur in der Lage, mit denen da drüben zu reden! Wir alle sind Flottenangehörige. Wir kennen uns mit der Verrücktheit von Politikern aus. Aber es scheint ... dass es keinen Ausweg gibt. Gute Männer und Frauen werden heute auf beiden Seiten fallen. Gott verdamme Euch in die Hölle, Finn Durandal!«
Preiß räusperte sich unsicher. »Falls Ihr die Anwesenheit der imperialen Flotte spürt, Admiral, könnt Ihr vielleicht mit der Schiffs-KI zusammen Schätzwerte für Positionen und Fähigkeiten der feindlichen Schiffe erstellen?«
»Keine schlechte Idee, Kapitän. Ozymandius,
rede mit mir!«
Sie warteten, erhielten aber keine Antwort. Schwejksam sprach die
KI erneut an, aber diese sonst so schwatzhafte Intelligenz schwieg.
Mit wachsender Sorge fand Schwejksam heraus, dass die Schiffs-KI
auf keinerlei Kommunikationsform auf irgendeinem Niveau reagierte.
Grundlegende Lektronenleistungen kümmerten sich weiterhin um
essenzielle Dinge wie die Lebenserhaltung, die künstliche
Schwerkraft und die Triebwerke, aber alle höheren
Intelligenzfunktionen waren dahin. Die Maschine an sich
funktionierte, aber niemand war zu Hause. Schwejksam wies den
Funkoffizier an, die übrigen Schiffe entsprechend zu überprüfen,
und hörte sich finster die Antworten an. Kein einziger
Sternenkreuzer der Flotte hatte mehr eine funktionsfähige
KI.
»Liegt dem vielleicht Sabotage zugrunde?«, fragte Preiß. »Oder
irgendeine neue Waffe, die Finn aufgetrieben hat?«
»Nein«, entgegnete Schwejksam bedächtig. »Ich denke, die Antwort
ist viel einfacher. Ich denke ... etwas ist mit Shub passiert. Alle
Schiffs-KIs sind Subroutinen von Shub, und das seit so langer Zeit,
dass wir es längst für selbstverständlich gehalten
haben.«
»Aber was könnte ihnen nur passiert sein?«
»Ich habe keine Ahnung, Kapitän. Alles spricht jedoch dafür, dass
die imperiale Flotte das gleiche Problem hat, sodass beide Seiten
gleichermaßen behindert sind. Ich frage mich, ob die da drüben es
schon bemerkt haben. Preiß, bringt schnellstmöglich die
Reservesysteme online! Wir können es uns nicht leisten, mit
heruntergelassener Hose dazustehen, wenn die Schlacht
beginnt.«
»Natürlich, Admiral.« Preiß zögerte. »Aber selbst, wenn alle
Reservesysteme mit voller Kapazität laufen, bleiben unsere Optionen
klar eingeschränkt. Wir humpeln verkrüppelt in die
Schlacht.«
»Die anderen auch, Kapitän. Geschieht uns nur recht, weil wir uns
zu sehr auf Shub verlassen haben. Übernehmt eine Zeit lang das
Kommando, Preiß. Ich muss die Lage mit dem Todtsteltzer
besprechen.«
Schwejksam erläuterte Lewis und Jesamine die Lage und marschierte dabei in ihrem Quartier unruhig auf und ab. Lewis rief über seine Gedankenverbindung nach Oz, erhielt aber auch keine Antwort. Schwejksam blieb schließlich stehen und blickte Lewis und Jesamine hoffnungsvoll an.
»Tut mir Leid, Admiral, aber das ist für uns ganz neu« sagte Jesamine. »Warum sollte Shub uns im Stich lassen?«
»Ist ihnen vielleicht etwas zugestoßen?«, überlegte Schwejksam. »Hat Finn ihre Heimatwelt angegriffen, und sind sie alle tot?«
»Falls Finn über solche Schiffe verfügte, hätte er sie auf uns gehetzt«, wandte Lewis ein. »Nein; die KIs müssen das Labyrinth des Wahnsinns betreten haben. Ich wusste ja, dass wir sie dort nie hätten allein lassen dürfen. Sie haben sich nie für etwas anderes interessiert als die Transzendenz. Die Versuchung muss zu groß geworden sein.«
»Es betrifft nicht nur die KIs der Flotte«, berichtete Schwejksam. »Wir erhalten Meldungen aus dem ganzen Imperium. Alles, worin Shub die Finger hatte, ist stehen geblieben: von der Steuerung des Luftverkehrs bis zu den Wartungsrobotern in den Kanalisationen. Auf allen industrialisierten Planeten herrscht das Chaos.«
»Vermutlich funktioniert alles wieder, sobald
sie aus dem Labyrinth hervorkommen«, sagte Lewis.
»Nicht unbedingt«, wandte Schwejksam ein. »Es hängt davon ab,
was aus dem Labyrinth hervorkommt. Wer
weiß schon, wozu sie sich dort entwikkeln?«
»Hat das Labyrinth sie möglicherweise vernichtet?«, überlegte
Jesamine. »Oder erneut in den Wahnsinn getrieben?«
»Unmöglich zu wissen«, stellte Lewis fest. »Das Labyrinth tut nun
mal, was es tut, und wir erfahren nie den Grund. Aber wir dürfen
uns jetzt nicht ablenken lassen. Wir müssen eine Schlacht
austragen.«
»Wo stecken eigentlich Eure fürchterlichen Freunde?«, fragte
Schwejksam unvermittelt. »Der Betrüger und die Irre? Seit Äonen
scheint niemand etwas von ihnen gesehen oder gehört zu
haben.«
»Wahrscheinlich sind sie gerade dabei, mal wieder die
Arzneischränke zu knacken«, sagte Jesamine. »Brett wird vor... na
ja, im Grunde vor allem ein bisschen nervös. Zweifellos werden er
und Rose auftauchen, sobald es losgeht. Und sei es auch nur, weil
sie ungern etwas verpassen.«
»Ich habe von jeher nur begrenzte Kräfte und Fähigkeiten vom
Labyrinth des Wahnsinns erhalten«, sagte der Admiral langsam.
»Sogar zu meinen besten Zeiten, die nun schon lange zurückliegen.
Seht Ihr, ich bin nie bis ins Zentrum des Labyrinths vorgedrungen,
obwohl ich insgesamt zweimal darin war. Das Herz des Labyrinths ist
für Todtsteltzers reserviert. Verfügt Ihr, Lewis, über Kräfte, über
irgendwelche besonderen Fähigkeiten, die Ihr gegen die imperiale
Flotte einsetzen könntet?«
»Ich bin noch dabei zu lernen, welche Fähigkeiten ich habe«,
antwortete Lewis vorsichtig. »Und ich darf nicht über das reden,
was ich im Herzen des Labyrinths vorgefunden habe. Es ist kein
Geheimnis, das ich preisgeben dürfte. Aber ich weiß ohnehin nicht,
was Kräfte unserer Art in einer Raumschlacht nützen sollten.«
.
Schwejksam seufzte und setzte sich auf die Kante des ungemachten
Betts. Er wirkte auf einmal älter und sehr müde. »Ich habe meinen
Kapitänen alles beigebracht, was ich von Taktik verstehe. Mich hat
schockiert, wie viele solcher Kenntnisse in Vergessenheit geraten
sind. Die Flotte hat sich schon so lange keiner ernsthaften Gefahr
mehr gegenübergesehen, dass sie eingerostet ist. Sie führt
heutzutage nicht mal mehr umfassende Manöver aus. Kein
Sternenkreuzer hat seit zweihundert Jahren noch auf einen anderen
geschossen. Die einzige gute Nachricht lautet, dass Finns Kapitäne
so eingerostet sein dürften wie unsere.«
»Hoffen wir nur, dass unsere Kapitäne schneller lernen als die
anderen«, sagte Lewis.
Finns Getreue versammelten sich vor den Maschinenräumen der
Verwüstung. Anscheinend unterband die
seltsame Strahlung, die das Sternentriebwerk ständig verbreitete,
jede Art technischer Lauschangriffe. Brett war ebenfalls dabei, ein
Verstoß gegen seine besseren Instinkte, und hoffte, dass die
Theorie mit den Lauschangriffen stimmte. Auf keinen Fall konnte er
sich durch Wortgewandtheit jemals aus dieser Verwicklung
herausreden. Er war bemüht, im Zentrum der Menge zu bleiben und so
viele Leute wie nur möglich zwischen sich und die Triebwerke zu
bringen. Er hatte schon von Sternenantriebsstrahlung gehört und
hing grauenhaften Visionen davon nach, wie ihm die Gliedmaßen
verfaulten und in der Nacht abfielen. Leslie Springfeld stand
natürlich vor der Menge und hielt den versammelten Gläubigen seine
Tiraden. Das Publikum reagierte gut und bejubelte jede seiner
anfeuernden Stellungnahmen. Brett überprüfte, ob Rose sich auch
benahm, und sah sie gelangweilt, aber geduldig an seiner Seite
stehen; dann blickte er sich unauffällig um. Eine Menge Leute waren
da. Viel mehr, als er vermutet hatte. Hunderte Männer und Frauen
aller Ränge und aus allen Sektionen des Schiffs. Die Verwüstung hatte also ein ernstliches Problem, und
durchaus möglich, dass für die übrigen Sternenkreuzer das Gleiche
galt. Ein paar Gesichter erwiderten seine Blicke argwöhnisch. Brett
schenkte ihnen sein bestes, beschwichtigendes Lächeln und überwand
sich, Leslies Worten zuzuhören.
Wie es schien, war der Owen, der sich der Flotte über Haden gezeigt
hatte, nur ein Trick gewesen, eine Shub-Illusion, die die Crews
daran hindern sollte, die Kontrolle über das Labyrinth des
Wahnsinns an sich zu reißen. Die KIs versuchten, der Menschheit die
Chance auf Transzendenz zu entreißen, die ihr zustand. Die KIs
würden sich natürlich nicht transzendieren können, das war den
Menschen vorbehalten, aber sobald sie ihr Scheitern feststellten,
zerstörten sie womöglich das Labyrinth, damit der Menschheit die
Gelegenheit zur Transzendenz ebenfalls verwehrt würde. Die Menge
reagierte wütend. Diese Denkungsart war ihr verständlich, denn
genau so hätte sie gehandelt. Leslie setzte seinen gewinnenden
Vortrag fort. Es kam darauf an, sagte er, dass die bevorstehende
Schlacht zwischen den beiden Flotten so schnell wie möglich
entschieden wurde, damit die Sieger nach Haden zurückkehren und das
Labyrinth des Wahnsinns vor den verräterischen KIs retten
konnten.
Die Menge jubelte und tobte, und Leslie ließ sie gewähren. Brett
wusste nicht, was er glauben sollte. Er hatte gehört, dass die KIs
der Sternenkreuzer allesamt gleichzeitig offline gegangen waren.
Das musste irgendetwas zu bedeuten haben.
Er bemerkte, dass Leslie weitersprach, und hörte zu. Leslie
erklärte, er hätte persönlich mit Imperator Finn gesprochen, der
eine Nacht der langen Messer an Bord sämtlicher Sternenkreuzer der
Rebellenflotte angeordnet hatte. Jeder Offizier, von dem man nicht
wusste, ob er loyal zum Imperator stand, sollte ohne Vorwarnung
umgebracht werden, und all das sollte innerhalb einer Nacht zum
Abschluss kommen. Die frei gewordenen Plätze waren dann von loyalen
Kräften zu besetzen. Es sollte eine plötzliche Machtergreifung
werden, damit die Schlacht beendet wurde, ehe sie überhaupt
begonnen hatte. Das war viel besser als eine umfassende Meuterei,
denn so mussten nur die Verräter selbst sterben, und zusätzliche
Verluste wurden vermieden.
Brett ertappte sich dabei, dass er nickte. Das alles klang wirklich
gut überlegt. Es konnte funktionieren. Auf jeden Fall fraßen die
Zuhörer es mit Löffeln und legten sich förmlich ins Geschirr, um
Offiziere, die sie verachteten, packen zu können. Brett hatte sich
zuvor gesorgt, Leslie könnte ihn auffordern, die Zweifelnden mit
Hilfe seiner Zwingkraft zu überzeugen, aber zu Bretts großer
Erleichterung schien ihm das erspart zu bleiben. Er wollte sich
schon entspannen, als er feststellte, dass Leslie nicht mehr redete
und alle ihn, Brett, anstarrten.
Oh Scheiße! Was habe ich verpasst? Wo ist der
nächste Ausgang?
»Brett Ohnesorg und Rose Konstantion«, sagte Leslie und lächelte
sie an. »Euch wird der ehrenvollste und gefährlichste Auftrag
erteilt. Ihr werdet damit betraut, den Verräter Todtsteltzer und
seine Schlampe umzubringen. Ihr seid die Einzigen, die nahe genug
an sie herankommen, und Ihr seid als Einzige stark genug, um diese
beiden Bremsklötze für unseren glanzvollen Triumph zu beseitigen.
Sie müssen liquidiert werden, oder alle unsere Pläne scheitern.
Seht Ihr irgendwelche Probleme, die der Ausführung dieses Auftrags
entgegenstehen, Brett?«
»Probleme? Ich?«, fragte Brett und bemühte sich angestrengt um
einen zuversichtlichen und lässigen Tonfall. »Nein. Keine
Probleme.«
»Es wird aber auch Zeit«, sagte Rose fast gelangweilt. »Ich muss
mich endlich persönlich dem Todtsteltzer entgegenstellen. Muss ein
für alle Mal herausfinden, wer von uns beiden der bessere Kämpfer
ist. Und jetzt, da wir beide im Labyrinth waren, müsste sich dieser
Zweikampf... als besonders anspruchsvoll erweisen. Ich schmecke
fast schon das Blut! Gott, dabei werde ich so heiß ...«
Die Leute in ihrer Umgebung wichen zurück. Brett hätte sich ihnen
am liebsten angeschlossen.
»Ihr erhaltet Eure Belohnung anschließend«, sagte Leslie und klang
doch glatt ein bisschen heiser, als er sich bemühte, alles wieder
in geordnete Bahnen zu lenken. »Ihr werdet geehrte Helden der neuen
Ordnung sein und vom Imperator persönlich einen Orden
erhalten.«
»Und?«, fragte Rose.
»Was ist mit Johann Schwejksam?«, fragte Brett rasch. Mehrere
Personen in der Menge murmelten diesen uralten, legendären
Namen.
»Wir befassen uns schon mit dem Admiral«,
versprach Leslie. »Er behauptet, er gehörte zur Flotte, wäre einer
von uns, aber das trifft nicht zu. Er ist ein aufgemotzter Händler,
der den Namen einer Legende beschmutzt.«
»Er scheint... über besondere Kräfte zu verfügen«, gab Brett
zaghaft zu bedenken.
»Dann zerren wir ihn zu Boden, stoßen ihm einen Pflock durchs Herz,
verbrennen seine Leiche und verstreuen die Asche im Weltraum«,
sagte Leslie. »Wir sind die Gläubigen, und unser Glaube wird uns
helfen.«
Lieber du als ich, dachte Brett, hatte
aber genug Verstand, es nicht laut auszusprechen. »Wann startet der
Aufstand, Leslie?«
»Er hat schon begonnen«, sagte Leslie und lächelte, als er Bretts
Reaktion sah. »Unsere Leute im Funkraum haben dort das Zepter in
die Hand genommen und verbreiten die Nachricht auf allen Schiffen
der Flotte. Der Müll von Nebelwelt und Virimonde ist bereits von
den Sternenkreuzern abgeschnitten. Wenn sie endlich bemerken, was
geschieht, wird es viel zu spät für sie sein. Und wir befassen uns
in aller Ruhe mit diesen Verrätern. Vorläufig gilt erst mal: das
Töten hat begonnen. Die Ausmerzung der Gottlosen. Ziehen wir nun
los und schließen uns dem an! Blut soll fließen; Menschen sollen
fallen, und die Reine Menschheit und die Militante Kirche sollen
letztlich triumphieren!«
Oh Scheiße! dachte Brett, als die Menge
jubelte. Was mache ich jetzt?
Als Schwejksam auf die Brücke der Verwüstung zurückkehrte, spürte er fast sofort, dass etwas nicht stimmte, denn der Funkoffizier meldete, dass das übliche Geplauder von Schiff zu Schiff verstummt war. Schwejksam versuchte die Funkzentrale der Verwüstung zu erreichen, erzielte aber keine Reaktion. Sogar die bordinternen Verbindungen waren ausgefallen. Schwejksam schickte Kuriere los, um zu erfahren, was zum Teufel da vor sich ging, und alarmierte sein Sicherheitspersonal. Etwas Übles geschah auf seinem Schiff. Das spürte er. Allmählich gingen die Meldungen ein und sprachen von verbreiteten Sabotageakten, von Offizieren, die man ermordert auf ihren Posten vorgefunden hatte, von Kämpfen auf den Stahlkorridoren. Man hatte in die Waffenkammer eingebrochen und alle möglichen Waffen erbeutet. Hätte Schwejksam nicht sofort auf seine Instinkte gehört, hätten die meisten seiner Leute keinerlei Warnung erhalten.
Sein erster Gedanke war, dass imperiale Agenten von der gegnerischen Flotte die Verwüstung geentert hatten, aber nicht das kleinste Boot hätte sich an Schwejksams Schiffe heranschleichen können, ohne dass er es bemerkte. Es gelang dem Funkoffizier, die Überwachungskameras wieder einzuschalten, und schon sahen sie wütende Kämpfe in allen Schiffssektionen hin- und herwogen. Viele Angreifer trugen Schärpen der Reinen Menschheit und der Militanten Kirche und brüllten im Kampf ihre kalten und bösartigen Slogans, und sie schossen auf jeden, der nicht zu ihnen gehörte. Schwejksam fluchte über sich selbst. Er hatte geglaubt, wenn er die Graffiti und das Gemecker duldete, dann würde es als Druckventil dienen, wodurch die Frustration entweichen konnte, ehe sie sich aufbaute. Es schien jedoch, dass er das Problem ernsthaft unterschätzt hatte.
Er schickte Techniker los, um die Sabotageschäden zu beheben, und ließ sie durch bewaffnete Sicherheitsleute schützen. Zu allererst musste das Schiff gerettet werden. Schwejksam tastete mit seinen Gedanken nach draußen. Die imperiale Flotte war schon nahe heran. Er musste die Rebellion der Finntreuen niederschlagen, ehe Finns Schiffe Schussdistanz erreichten. Hilflos verfolgte er auf den Monitoren, wie Freunde und Kollegen mit Schusswaffen, Messern oder allem Möglichen aufeinander losgingen. Gewaltige Taten des Heldentums und des Verrats wurden in den glänzenden Stahlfluren vollbracht, und das Blut floss in Strömen. Der Glaube an die Militante Kirche feuerte eine Seite an, und der Glaube an den seligen Owen die andere. Dabei gab es weder Gemeinsamkeiten noch irgendeine Aussicht auf Erbarmen.
Schwejksam warf sich aus dem Kommandositz, nur eine Sekunde, ehe ein Energiestrahl sengend durch die Luft fuhr. Er rollte sich am Boden ab und war schnell wieder auf den Beinen, noch während derselbe Energiestrahl seinen Weg fortsetzte und eine Konsole auf der anderen Seite der Brücke hochjagte. Flammen schossen daraus hervor, und Rauch stieg auf. Alarmsirenen heulten los, wenn auch zu spät. Fremde Gesichter strömten auf die Brücke, Pistolen in den Händen, die Mienen verzerrt von Hass und Abscheu. Schwejksam schoss dem Ersten in die Brust, und der Energiestrahl durchschlug diesen Mann und riss auch noch den nächsten um. Die übrigen Offiziere standen jetzt von ihren Pulten auf und griffen nach den Waffen. Schwejksam hielt das eigene Schwert schon in der Hand und griff die Meuterer direkt vor ihm an, wobei er sich so schnell bewegte, dass sie ihn nicht als Ziel erfassen konnten. Er wütete unter ihnen; das Schwert stieg und fiel mit unmöglicher Schnelligkeit und durchschnitt Fleisch und Knochen. Schwejksam war schnell und stark, und seine Opfer schrien vor Schrecken und Grauen, als ihnen klar wurde, dass sie ungeachtet ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit keine Chance gegen ihn hatten. Trotzdem gingen sie immer weiter auf ihn los und schossen dabei inzwischen blind um sich, sodass überall auf der Brücke noch mehr Konsolen explodierten. Ungeachtet der Luftfilter hing dicker Rauch in der Luft. Schwejksam lachte atemlos, während er seine Gegner niederstreckte. Es fühlte sich gut an, nach so langer Zeit endlich wieder richtig kämpfen zu können. Einige seiner Feinde sangen Gebete und sogar Formeln des Exorzismus. Schwejksam tötete sie trotzdem. Und letztlich stand er allein zwischen Leichenbergen; das Blut tropfte dick von seiner Schwertklinge, und er hatte nicht einen einzigen Treffer einstecken müssen. Das Blut, das seine Uniform durchnässte und ihm ins Gesicht gespritzt war, stammte vollständig von den anderen. Schwejksam blickte sich unter der Brückenmannschaft um und erblickte Schrecken und Grauen in ihren Gesichtern über das, was er getan hatte.
»Gewöhnt Euch lieber daran«, empfahl er ihnen heiser. »Das ist es, was Krieg bedeutet. Funkoffizier, verbindet mich mit dem Rest der Flotte. Die imperialen Schiffe treffen bald ein, und ich muss wissen, auf wen ich mich verlassen kann. Sicherheitsdienst, bewacht alle Eingänge zur Brücke Jemand soll endlich diese Brände löschen und den verdammten Alarm abstellen!«
Er ließ sich wieder auf den Kommandostuhl sinken, während sich seine Untergebenen beeilten, den Befehl auszuführen. Kapitän Preiß betrachtete Schwejksam mit großen, fast verängstigten Augen. Der Admiral ignorierte ihn. Er bemerkte, dass er immer noch das Schwert in der Hand hielt, und machte sich daran, die Klinge mit einem Tuch zu reinigen.
Gute Arbeit, Kapitän, sagte Investigator Frost. Gut zu sehen, dass Ihr nicht alles vergessen habt, was ich Euch lehrte.
Seid Ihr deshalb zurückgekehrt?, erkundigte sich Schwejksam. Weil der Tod uns allen so nahe gerückt ist?
Lewis Todtsteltzer und Jesamine Blume verließen ihre Unterkunft sofort, als der Alarm ertönte, und hielten Schwert und Pistole schon in den Händen. Womit sie den kleinen Haufen Meuterer überraschten, die gekommen waren, um sie sterben zu sehen. Lewis und Jesamine griffen diese Gruppe sofort an, und bald erfüllten der Lärm klirrender Schwerter und die Schreie der Sterbenden den Korridor. Viel Platz zum Manövrieren war nicht, aber Lewis und Jesamine brauchten ihn auch nicht. Beide zeigten sich unmenschlich schnell und stark, sie hackten und schnitten sich einen Weg durch die Reihen der Fanatiker, als würden sie wieder einen Pfad durch den Dschungel von Shandrakor bahnen. Nach allem, womit sie sich schon konfrontiert gesehen hatten, war ein Haufen Bewaffneter gar nichts.
Brett Ohnesorg verfolgte das alles von einem getarnten Seiteneingang aus und hielt Rose entschlossen am Arm fest. Der Plan verlangte von ihnen beiden, von hinten anzugreifen, während der Haufen Lewis und Jesamine ablenkte, aber Brett brachte das einfach nicht über sich. Er hatte so schlimme Bauchschmerzen, dass er sich fast krümmte - und außerdem traute er Finns Versprechen von Belohnung und Sicherheit kein bisschen. Rose wehrte sich gegen seinen Griff, aber er wusste, dass sie seiner Wegweisung folgen würde. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass er für sie beide das Denken übernahm. Und so wartete Brett eine Zeit lang, nur um sicherzugehen, in welche Richtung sich der Kampf entwickelte, und sobald sich die Niederlage der Meuterer abzeichnete, stürmte er vor, um Lewis und Jesamine beizustehen. Rose lief, ein klein wenig verwirrt, neben ihm her. Zu viert machten sie den letzten paar Loyalisten rasch den Garaus. Brett stellte überrascht fest, dass seine Bauchschmerzen wie weggeblasen waren. Er selbst hatte vielleicht kein Gewissen, sein Magen jedoch schon. In dieser Hinsicht musste er etwas unternehmen.
(Außerdem ... mochte er Lewis. Und diese Fanatiker der Militanten Kirche und der Reinen Menschheit gingen ihm richtig auf die Nerven.)
Lewis sah Brett an. »Habt Ihr eine Ahnung, was
hier vorgeht?«
»Loyalistische Elemente meutern«, erklärte Brett spitz. »Wir
sollten lieber aushelfen, wo wir können.«
Lewis nickte und ging los durch den Korridor, und Jesamine tappte
eifrig neben ihm her. Brett und Rose folgten ihnen. Rose runzelte
die Stirn.
»Ich weiß«, sagte Brett. »Vertraue mir und mach erst mal mit. Ich
erkläre es dir später.«
»Ich wollte Lewis umbringen«, stellte Rose fest und klang doch ein
bisschen eingeschnappt.
»Du findest andere Gelegenheiten. Bringe vorläufig Loyalisten um.
So viele du magst.«
Rose blickte ihn an. »Nur für dich, Brett! Nur für dich.«
Die Kämpfe auf den Fluren lösten sich rasch auf, als sich Lewis und
seine Gefährten einmischten. Niemand vermochte ihnen standzuhalten.
Die Meuterer verloren den Kampfesmut; es war ihnen in den meisten
Fällen nicht gelungen, die aufs Korn genommenen Offiziere zu töten,
und bald waren sie auf der Flucht. Sie rotteten sich zu einem
letzten Kampf zusammen und schafften es doch tatsächlich, Lewis
kurz von Jesamine zu trennen.
Lewis hieb und hackte wild um sich und versuchte verzweifelt zu ihr
durchzudringen, aber die Fanatiker der Militanten Kirche drängten
sich dicht an dicht um ihn, die Gesichter verzerrt von der
enttäuschten Wut von Tieren, die ihren Tod unmittelbar vorhersahen.
Sie scherten sich nicht mehr um ihre Sache oder auch nur um den
Sieg; sie wollten lediglich den verhassten Feind mit sich reißen.
Neue Kraft durchflutete Lewis, als er sah, wie Jesamine durch den
Druck der Menge weiter von ihm weggedrängt wurde, und er
durchschlug die Männer vor ihm förmlich und schleuderte ihre
zerbrochenen Leichen zur Seite wie Strohpuppen.
Jesamine kämpfte hartnäckig weiter, war schneller und stärker als
alle, die sie heulend ansprangen, aber letztlich trieb die schiere
Übermacht der Menge sie an eine Stahlwand. Jesamine hielt Ausschau
nach Lewis, aber er war zu weit weg. Wut strömte durch sie, und sie
öffnete den Mund und sang. Das entsetzliche Lied schnitt wie ein
Schwert durch die Angreifer. Ihre Augen platzten, und Blut lief
ihnen aus den Ohren. Manche fielen unter Herzanfällen tot um, und
andere wurden innerhalb eines Augenblicks wahnsinnig. Grauenhafte
Schreie drangen durch den Stahlkorridor, wurden aber von dem
tödlichen Lied übertönt. Sogar Lewis zuckte vor den mörderischen
Klängen zurück. Innerhalb weniger Augenblicke waren alle Meuterer
im Korridor tot, und die Leichen häuften sich auf seiner ganzen
Länge. Jesamine hörte auf zu singen und schwankte auf den Beinen.
Lewis war sofort bei ihr und hielt sie fest. Sie klammerte sich wie
ein Kind an ihn.
»Was hat das Labyrinth aus mir gemacht, Lewis? Aus meiner Stimme?
Meine Lieder waren nie für so etwas gedacht!«
»Es wird wieder eine Zeit für Lieder über Liebe und Freude kommen«,
sagte Lewis. »Dafür kämpfen wir ja.«
Und in diesem Augenblick kamen Brett und Rose um die Ecke und
gesellten sich zu ihnen. Lewis empfing sie mit einem vernichtenden
Blick.
»Wo zum Teufel habt Ihr gesteckt? Was hat Euch
aufgehalten?«
»Bauchschmerzen«, antwortete Brett munter. »Irgendwas auf diesem
Schiff bekommt mir überhaupt nicht.«
Einige Loyalisten stiegen zum Laderaum der Verwüstung hinab, um im Namen der Reinen Menschheit
die Monster von Shandrakor zu töten. Die Monster zerrissen sie und
verspeisten sie anschließend. Eines von ihnen übermittelte eine
Nachricht an die Brücke: Schickt mehr
Loyalisten!
Und das war der Aufstand im Großen und Ganzen. Die Meuterer waren nicht so zahlreich gewesen, wie sie gehofft oder geglaubt hatten. Nur die wirklich in der Wolle gefärbten Fanatiker hatten sich über die Natur dessen täuschen können, was sie gesehen hatten, als Owen Todtsteltzer auf den Brücken sämtlicher Schiffe zugleich auftauchte und die Besatzungen aufrief, sich auf seine Seite zu schlagen. Er war der Held der Prophezeiung, die zurückgekehrte Legendengestalt, und die meisten Crewmitglieder wären lieber gestorben, als ihn zu enttäuschen. Die Meuterer konnten nicht ein einziges Schiff der Rebellenflotte in ihre Gewalt bringen. Gute Männer und Frauen waren umgekommen, und Leichen und Blut mussten weggeräumt werden, aber die Nacht der langen Messer war vorbei.
Die wenigen Meuterer, die die Kämpfe überlebt hatten, wurden zur nächsten Luftschleuse hinausgestoßen, verbunden mit der Empfehlung, nach Hause zu gehen. Jetzt, wo die imperiale Flotte näher kam, war nicht die Zeit für Barmherzigkeit oder Milde. Lewis und Jesamine, Brett und Rose versammelten sich auf der Brücke der Verwüstung und betrachteten auf dem Hauptmonitor die angreifende Flotte, die jetzt hinter ihren Tarnschirmen zum Vorschein kam. Es waren Sternenkreuzer ohne Zahl, und ständig fielen noch mehr aus dem Hyperraum.
»Das ist aber eine verdammt große Flotte«, fandBrett.
»Und wir sind gefährlich geschwächt«, ergänzte
Schwejksam. »Alle unsere Schiffe wurden beschä
digt, und wir haben zahlreiche Crewmitglieder verloren. Vorläufig
haben wir zwar die wichtigsten
Kampfstationen besetzt, aber niemand weiß, wie lange es dabei
bleibt, sobald die Schlacht begonnen hat.
Hoffentlich weiß die Gegenseite das nicht. Die Schiffe von
Nebelwelt und Virimonde sind ungeschoren davongekommen, aber ich
weiß nicht, wie gut sie sich gegen imperiale Sternenkreuzer halten
werden. Falls Ihr irgendwelche Asse aus dem Ärmel ziehen könnt, die
Ihr dem Labyrinth verdankt, Todtsteltzer,
dann wäre jetzt ein richtig guter Zeitpunkt dafür!« »Ich fürchte,
damit kann ich nicht dienen, Admiral«, sagte Lewis. »Jetzt kommt
alles auf Mut und
Ehre an.«
»Wir werden alle umkommen!«, sagte Brett.
Die imperiale Flotte fiel mit lautloser Wut über die Rebellenflotte her; sämtliche Geschütze flammten auf, und innerhalb eines Augenblicks versank alles im Chaos. Sternenschiffe aller Formen und Größen zuckten hin und her, manövrierten in drei Dimensionen, nahmen ihre Ziele aufs Korn, wie sie sich jeweils anboten. Abwehrschirme leuchteten hell auf und verstreuten tödliche Energien, als Disruptorkanonen ihre Salven feuerten, strahlende Kaskaden in der langen Nacht. Genug Feuerkraft tobte sich hier aus, um das Leben von einem Dutzend Planeten zu sengen, und hier und dort explodierten Schiffe wie Novas, als sich ihre Abwehrschirme überluden und ausfielen. Oft stürzte sich das siegreiche Schiff schon in den nächsten Kampf, ehe es überhaupt die Ergebnisse seines Angriffs sah.
Da die KIs der Schiffe ausgefallen waren, konnte niemand kombinierte Angriffe durchführen und jedes Schiff musste auf eigene Faust kämpfen. Schwejksam erteilte in einem endlosen Strom Befehle, versuchte, seine Strategie durchzusetzen, aber nicht mal er konnte über die Entwicklung der Schlacht auf dem Laufenden bleiben. Die einfachste LektronenZielerfassung konnte zwar mit Schätzwerten über die Bewegung eines Schiffs arbeiten, aber es lag dann an den menschlichen Kanonieren, die beweglichen Ziele auch zu treffen, vorzugsweise ohne dabei ein befreundetes Fahrzeug zu erwischen. Die Männer und Frauen beider Seiten feuerten ihre Geschütze ab, während sie wild blickten und irre lächelten, halb in Trance vor lauter Adrenalin und Gefechtsdrogen, und arbeiteten ebenso viel mit Instinkt wie mit dem, was sie gelernt hatten. Die Schiffe von Nebelwelt und Virimonde brausten durch das Chaos, flogen Kreise um die größeren Kähne, legten unerwartete Schnelligkeit und tödliche Zielsicherheit an den Tag. Die Menschen von Nebelwelt und Virimonde wurden ihr Leben lang als Krieger geschult, und im Kampf fühlten sie sich zu Hause. Ihre Abwehrschirme waren zwar dem Gelegenheitstreffer aus einer Sternenkreuzerkanone nicht gewachsen, aber sie alle kämpften und starben mit Owens Namen auf den Lippen, und sein Familienname war ihr Schlachtruf:
Todtsteltzer!
Todtsteltzer!
Lewis und Jesamine rannten gerade einen Flur entlang, um einer
bedrängten Geschützmannschaft beizustehen, als einer der
Abwehrschirme der Verwüstung erbebte und
ausfiel; ein direkter Treffer schlug ein Loch durchs Schott. Luft
entwich durch die riesige, gezackte Lücke und riss Lewis und
Jesamine sofort von den Beinen. Die Lichter flackerten, und die
Schwerkraft schwankte, begleitet vom Heulen des Alarms, das jedoch
im pfeifenden Rauschen der Luft fast unterging. Jesamine trudelte
auf das Leck zu und schlug dabei Purzelbäume. Lewis schrie auf,
ohne dass es in dem Tumult vernehmbar wurde, und stürzte ihr nach.
Jesamine hielt sich mit einer Hand an der Kante des Lecks fest und
blieb dort hängen, halb innerhalb, halb außerhalb des Schiffs.
Lewis stieß heftig an sie und packte sie am Arm, schrie dann aber
auf, als ihm eine bösartig scharfe Stahlspitze die Seite
durchbohrte. Der Metallsplitter grub sich tief ein. Lewis hielt
Jesamines Arm verzweifelt fest. Jesamine baumelte bereits im kalten
Vakuum, und nur die Stahlspitze in Lewis' Flanke verhinderte, dass
er ihr folgte. Er rang in dem Luftstrom verzweifelt nach Atem.
Langsam, zentimeterweise zog er Jesamine wieder herein. Dann
feuerte die Disruptorkanone aufs Neue; das gesamte Schott flog
auseinander, und der Korridor stand zum Weltraum hin offen. Lewis
und Jesamine verloren ihren prekären Halt und flogen in die
tödliche Leere des Weltalls hinaus.
Lewis hielt Jesamine am Arm gepackt, während sie langsam kopfüber
rotierten. Die Verwüstung sank unter ihnen
weg, eilte davon, um andere Schiffe zu bekämpfen. Die Schlacht
tobte ringsherum lautlos, und die Schiffe bewegten sich darin zu
schnell, als dass menschliche Augen sie hätten verfolgen können.
Disruptorstrahlen und aufflammende Schutzschirme leuchteten heller
als die Sterne. Es war kalt und still und sehr dunkel. Lewis kam
sich ganz klein und unwichtig vor.
Nach einiger Zeit fragte er sich: Warum bin
ich nicht tot? Und dann überlegte er präziser: Warum kocht das Blut nicht in meinen Adern? Warum sind
meine Lungen nicht kollabiert? Und warum
habe ich keinerlei Bedürfnis, Luft zu holen? Er tastete nach
der Wunde in seiner Flanke und stellte fest, dass sie schon
verheilt war. Er fühlte sich tatsächlich sehr gut.
Gern hätte er hysterisch gekichert, aber das musste bis später
warten. Er zog Jesamine eng an sich und überzeugte sich davon, dass
es auch ihr gut ging. Sie grinsten sich gegenseitig verwirrt an.
Und Lewis dachte: Das ist toll! Ich kann im
Vakuum überleben! Seit Owen war dazu niemand mehr fähig!
Jetzt fang ja nicht an zu prahlen!, mahnte ihn Jesamines Stimme
in seinem Kopf entschieden.
Jes! Ich höre dich! Hörst du mich
auch?
Ja! Das Labyrinth ist einfach voller Überraschungen, nicht
wahr?
Jetzt auch noch Telepathie! Wir vollbringen einfach
alles!
So weit würde ich nicht gehen, Liebster. Wenn ich erst mal alles
essen kann, was ich mag, ohne dabei zuzunehmen, dann glaube ich
auch an Wunder. Und da wir letztlich doch nicht tot sind, warum
probieren wir dann nicht mal, den bösen Buben ein bisschen
wehzutun? Siehst du das Schiff da drüben? Brausen wir doch mal
rüber und verderben ihnen den Tag!
Klingt für mich nach einem guten Plan, sagte Lewis.
Und sie brauchten nur daran zu denken; sofort segelten sie durch den leeren Raum zu dem imperialen Schiff hinüber, das sie sich ausgesucht hatten. Die Erbe brauste mit vollem Tempo dahin, aber sie holten sie gespenstisch schnell ein. Die Schutzschirme leuchteten in allen Farben des Regenbogens, während sie Disruptorfeuer aus allen Richtungen aufsaugten. Lewis stoppte vor dem Schiffsrumpf und schlug mit der Faust nach dem Abwehrschirm. Die Energiebarriere erzitterte und kräuselte sich, hielt aber. Dann schlugen Lewis und Jesamine gleichzeitig darauf ein, und der Schirm brach zusammen. Lewis wäre ernstlich beeindruckt und ein wenig besorgt gewesen über das, was diese Leistung besagte, aber er hatte nicht die Zeit dafür, und so machte er einfach weiter. Zusammen mit Jesamine senkte er sich auf die gewaltige Stahlkrümmung nieder und spazierte an der Flanke des Schiffs entlang bis zu einer Luftschleuse. Dann traten sie sie ein.
Sobald sie an Bord waren, atmeten sie wieder normal, als hätten sie nie damit aufgehört. Das Gehör meldete sich rasch zurück, und beide zuckten sie unter dem Lärm der durcheinander heulenden Alarmsirenen zusammen. Lewis kontrollierte erst die eigenen Hände und dann die Jesamines, aber in beiden Fällen kamen sie ihm nicht besonders kalt vor. Sie beide zuckten die Achseln und sahen sich nach jemandem um, gegen den sie kämpfen konnten. Sie spazierten durch das feindliche Schiff, und wo sie auch auftauchten, ergriffen die Menschen vor ihnen schreiend die Flucht. Viele riefen im Davonrennen den Namen Todtsteltzer, und Lewis bezog eine gewisse kalte Befriedigung über das Entsetzen in ihrem Ton.
Die Schlacht setzte sich fort; ein Schiff nahm das nächste aufs Korn, und zuzeiten traten gewaltige Explosionen auf, wenn ein Schiff zerplatzte und tote Crewmitglieder wie Konfetti durchs Weltall trudelten. Schwejksams Flotte kämpfte gut und stark, war aber durch die Meuterei der Loyalisten ernsthaft geschwächt. Man konnte unmöglich sagen, in welche Richtung sich die Waage geneigt hätte, wären nicht auf einmal Carrion und seine Ashrai zu Tausenden aus dem Nirgendwo herangeflogen, wobei sie auf den weit ausgespannten Membranflügeln ihre Bahn durch den Weltraum zogen, als wäre es ihre natürliche Umwelt. Carrion führte diese dämonenhaften Fremdwesen zu Schwarmangriffen auf die imperiale Flotte; die mächtigen Gestalten durchschlugen glatt die Abwehrschilde, als wären sie gar nicht vorhanden, und rissen die Stahlrümpfe mit den entsetzlichen Klauen auf. An Bord der imperialen Schiffe erhoben sich Stimmen und schrien: Es sind die Drachen! Owens Drachen, die gekommen sind, um uns dafür zu bestrafen, dass wir den wahren Todtsteltzer nicht anerkannt haben!
Die Moral der Imperialen erholte sich davon nicht mehr, und ein Schiff nach dem anderen kapitulierte. Schwejksams Flotte übernahm rasch die Kontrolle und vernichtete die wenigen Fahrzeuge mit den ganz harten Fanatikern an Bord, die sich zu kapitulieren weigerten, und so war auf einmal alles vorbei. Admiral Shapiro erlitt einen Nervenzusammenbruch, schoss sich ins Gesicht und erzeugte dadurch eine ziemliche Schweinerei. Kapitän Vardalos von der Erbe übernahm widerstrebend das Kommando und sorgte für die umfassende Kapitulation, die Admiral Schwejksam großzügig akzeptierte, um einen noch größeren Verlust an Menschenleben zu verhindern.
Kapitän Vardalos saß zusammengesunken auf ihrem Kommandostuhl. Der Hauptmonitor zeigte beide Flotten, die zum Halten gekommen waren, umgeben von den dahintreibenden Wracks beschädigter oder zerstörter Schiffe. Owens Drachen zogen ungeschützt ihre Bahn durchs All. Wie hatte sie sich so sehr irren können? Der selige Owen war tatsächlich in der Stunde der größten Not für die Menschen zurückgekehrt, ganz wie es die Legenden immer versprochen hatten; und sie hatten ihn geleugnet. Ihr Glaube hatte sich als zu schwach erwiesen. Verdammt sollten der Imperator und seine Lügen sein!
Sie blickte langsam zur Stellvertreterin auf,
die unsicher neben ihr herumhing.
»Kapitän, sie sind da!«
»Wer ist da?« Vardalos bemühte sich um Konzentration. »Hat
Schwejksam schon seine Vertreter herübergeschickt?«
»Na ja, sozusagen. Lewis Todtsteltzer und Jesamine Blume haben
ungeschützt den Weltraum durchquert, eine Luftschleuse aufgerissen
und sind einfach hereinspaziert Jetzt stehen sie draußen vor der
Brücke und verlangen, mit Euch zu reden!«
Vardalos musste kurz die Augen schließen. Das wurde ihr alles ein
bisschen zu viel.
»Gewährt ihnen Zutritt, ehe sie die Tür eintreten.«
Fortuna ließ die beiden herein. Sie traten vor und grüßten den
Kapitän. Dabei musste man ihnen zugute halten, dass sie gar nicht
besonders selbstgefällig wirkten. Sie hatten nach der Kapitulation
keinerlei Probleme mit der Besatzung der Erbe mehr gehabt. Die Crew war schon völlig
überwältigt von dem, was der Todtsteltzer und die Diva vollbracht
hatten, und das Eintreffen der Ashrai erwies sich als Tropfen ins
übervolle Fass. Die Moral der Crewmitglieder war so gründlich
gebrochen, dass sie sich vor Lewis und Jesamine regelrecht lang
hinwarfen, während diese ihrem Weg zur Brücke folgten. Ein paar
geißelten sich zur Buße, sogar mit improvisierten Peitschen. Lewis
und Jesamine wichen ihnen weiträumig aus.
Kapitän Vardalos musterte den Mann und die Frau vor ihr gründlich.
Sie sahen gar nicht nach etwas Besonderem aus, aber eine
schreckliche Art von Größe umgab sie wie eine Aura. »Glückwunsch zu
Eurem Sieg«, überwand sich Vardalos schließlich zu sagen.
»Der heutige Tag kennt keinen Sieger, Kapitän.« Das berühmt
hässliche Gesicht des Todtsteltzers drückte keinen Triumph aus, nur
Bedauern. »Zu viele tapfere Manner und Frauen sind ohne guten Grund
gefallen. Finn hat uns alle verraten. Ich war nie ein Verräter,
genauso wenig wie Douglas oder Jesamine oder irgendeiner der
anderen, die dafür angeprangert wurden, dass sie sich Finns
Übeltaten entgegenstellten. Und ja, es stimmt: mein Ahnherr Owen
ist zurückgekehrt. Er ist losgezogen, um den Schrecken aufzuhalten,
sodass wir uns die Zeit nehmen können, uns mit dem Imperator zu
befassen. Werdet Ihr an unserer Seite kämpfen, Kapitän?«
Vardalos war erleichtert. So viele Sorgen fielen augenblicklich von
ihr ab, dass es sich anfühlte, als könnte sie eine entsetzlich
schwere Last ablegen, die sie viel zu lange getragen hatte. Sie
lächelte den Todtsteltzer an, der ihr jetzt gar nicht mehr so
schlimm vorkam.
»Natürlich«, sagte sie. »Unsere Flotte gehört Euch. Falls Finn uns
über etwas so Wichtiges belogen hat wie die Rückkehr des seligen
Owen, dann belügt er uns auch in allen anderen Dingen. Er ist für
das Amt des Imperators nicht geeignet. Führt uns, Todtsteltzer! Wir
werden Euch nicht noch einmal enttäuschen.«
Und so machte sich die riesige, vereinigte Flotte langsam auf den
Weg nach Logres, erfüllt von Zorn und Verlangen nach Gerechtigkeit
- begleitet von Carrion und der Armee seiner Ashrai sowie
sämtlichen Schiffen von Nebelwelt und Virimonde.
Eine Armee der Rächer kehrte nach Hause zurück, und nichts würde
sie diesmal aufhalten.